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Erinnern ohne Reue

José Luís Peixoto erzählt im Roman »Mittagessen am Sonntag« vom gelingenden Leben Rui Nabeiros, des Gründers der Delta-Cafés

  • Mirco Drewes
  • Lesedauer: 4 Min.
Es sind Gerüche, Geschmäcker, Lichtreflexe, winzige Déjà-vu-Erlebnisse, die Flashbacks in die Vergangenheit hervorrufen.
Es sind Gerüche, Geschmäcker, Lichtreflexe, winzige Déjà-vu-Erlebnisse, die Flashbacks in die Vergangenheit hervorrufen.

»Mittagessen am Sonntag« – schon der Titel des 2021 erschienenen Romans (im Original: »Almoço de Domingo«) von José Luís Peixoto evoziert Ruhe, Einkehr, Rückbesinnung. Zumindest, wenn man nicht an eine Bratwurst auf dem Amateurfußballplatz denkt. Übersetzt hat den Roman aus dem Portugiesischen die versierte österreichische Übersetzerin Ilse Dick, nicht nur Peixoto-Kennerin, sondern auch imstande, dessen tastende, sich beständig aus sich selbst entfaltende Sprache gekonnt zu rhythmisieren. Und tatsächlich: Kontemplation und Erinnerung sind Modus und Gegenstand des Romans.

Peixoto hat eine literarische Biografie von Manuel Rui Azinhais Nabeiro vorgelegt. In dieser geht es dem sehr produktiven Erzähler, dessen Werke in mehr als 20 Sprachen übersetzt wurden, nicht darum, die Lebensgeschichte eines der legendärsten Unternehmer Portugals chronologisch nachzuzeichnen. Der heimliche Protagonist des Romans ist die Erinnerung selbst – ihr Zustandekommen, ihre Eigenheit als Verbinderin von Vergangenem und gelebter Gegenwart, ihre Bedeutung als Schöpferin dessen, was Identität konstruiert und den Wert eines Lebens begründet.

Der Werdegang des Rui Nabeiro ist eine Variante der klassischen Erzählung des Selfmademans, des Mannes aus einfachen Verhältnissen, der sich großen Wohlstand erarbeitet. Rui Nabeiro wurde 1931 in der kleinen Stadt Campo Maior an der spanischen Grenze als Sohn einer Gemüsehändlerin geboren, sein Vater betrieb eine kleine Kaffeerösterei. Während des Spanischen Bürgerkriegs ab 1936 wurde die Gegend zu einem regen Umschlagplatz für Schmuggelware.

Im Alter von 19 Jahren übernahm Rui Nabeiro, der nur bis zur vierten Klasse die Schule besucht hatte, die Geschäftsführung des Familienbetriebes. Basierend auf dem familiären Wertekosmos, in dem Respekt, Rücksichtnahme und Redlichkeit Fixsterne gewesen sein sollen, baute er das Unternehmen unter dem Namen Delta zum größten Kaffeeröster der iberischen Halbinsel aus, schließlich zu einem weltweit agierenden Handelskonzern, dessen Markenzeichen faire Handelsbeziehungen und Lohnpolitik waren. Wenige Tage vor seinem 92. Geburtstag starb Rui Nabeiro 2023.

Kontemplation und Erinnerung sind Modus und Gegenstand des Romans.

Die Arbeitsbiografie, der Karriereweg Rui Nabeiros, aber auch seine Eignung als Zeitzeuge eines portugiesischen Jahrhunderts, das den Zweiten Weltkrieg, die faschistische Diktatur und die Nelkenrevolution sowie den Sprung Portugals in die Moderne umfasst, gäben mehr als genug Stoff für eine epische Erzählung der Geschichte des Landes im Spiegel des Exempels her, wie beispielsweise Nino Haratischwili dies für Georgien herausgearbeitet hat. Und doch tritt das Stoffliche, die materielle Historie, in Peixotos Erzählung in den Hintergrund.

Der Erinnerungsroman umfasst eine erzählte Zeit von lediglich drei Tagen im März des Jahres 2021, die Tage vor dem 90. Geburtstag Rui Nabeiros. Während dieser Tage gewährt Peixoto durch den Filter der Erinnerung des Jubilars Einblick in dessen Leben, weniger als Abfolge von Geschehnissen, vielmehr als Kondensat des Erlebten, als entstehende, gewebt werdende Beziehung des Gewesenen zum Moment der Reflexion, geboren aus der Inspiration des konkreten Augenblicks. Es sind Gerüche, Geschmäcker, Lichtreflexe, winzige Déjà-vu-Erlebnisse, die Flashbacks in die Vergangenheit hervorrufen und den greisen Patriarchen zur dankbaren Reflexion und Rückschau motivieren.

Peixoto zeichnet ein leises und schön zu lesendes Bild des gelungenen Lebens eines Mannes, der sich glücklich schätzt und mit dem die Lesenden ahnen, was die Wurzel seines – und vielleicht sogar allgemein menschlich des – Glückes ist: Liebe. Liebe als Solidarität, Beistand, Erfüllung, als Band zwischen einander leidenschaftlich Liebenden, Geschwistern und den Generationen.

Peixoto ist ein runder und überaus erbaulicher Erinnerungsroman gelungen. Dass die großen Brüche des 20. Jahrhunderts bloß als tagträumerische Kulisse vorbeiziehen, beim Blinzeln in das Licht der hereindringenden Abendsonne hier und da aufscheinen, um Etappen auf einem langen geglückten Lebensweg zu bleiben, kann dennoch enttäuschen. Die materiellen, politischen und psychologischen Implikationen von Faschismus und Revolution beispielsweise hätten für das geneigte Interesse durchaus beleuchtet werden dürfen. Insbesondere da Peixoto einen Zeitzeugen aufruft, der als Unternehmer auch politisch Gehör fand und aus dessen Lebensgeschichte man viel über die gesellschaftliche Verfasstheit von Arbeit hätte lernen können. Ein wenig mehr Bratwurst statt Festessen, Materie statt Meditation wäre sozusagen einen Sonntagsgedanken wert gewesen. Und die allzu häufige Verwendung des Progressiv als Verlaufsform fällt in Dicks ansonsten zu lobender Übersetzung unangenehm auf.

Wunderte sich einst der deutsche Philosoph Rudolf Hermann Lotze über die »allgemeine Neidlosigkeit jeder Gegenwart gegen ihre Zukunft«, so kann diese in der Rückschau so gelungene und idealistisch geglättete Lebens- und Arbeitsbiografie, diese in der Erzählung konstruierte Vergangenheit, durchaus den Neid der Gegenwart erfahren. In der Welt des aller Hoffnungen baren, krisenhaften Spätkapitalismus des 21. Jahrhunderts wirkt diese Lebensgeschichte fast zu schön, um wahr zu sein. Dennoch: Mit einer wirklich im unironischen Sinne schönen Sonntagslektüre haben wir es allemal zu tun.

José Luís Peixoto: Mittagessen am Sonntag. A. d. Portug. v. Ilse Dick. Septime, 240 S., geb., m. Schutzumschlag, 26 €.

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