«Das Schlimmste kommt noch»

Ein Jahr nach dem Beben in Nepal befürchten Geophysiker, dass an einem kurz vor der Hauptstadt gestoppten Bruch noch stärkere Erschütterungen entstehen könnten. Von Michael Lenz

  • Michael Lenz
  • Lesedauer: 5 Min.

Zuerst gab es einen lauten Knall. Dann rumpelte es in kurzen Abständen. Es fühlte sich an, als ob etwas von tief unten in der Erde nach oben pressen würde.« So beschreibt Mamata Karki den Moment des Ghorka-Erdbebens vom 25. April 2015 in Nepal. Die 28 Jahre alte Frau aus dem Dorf Lamosanghu im Distrikt Sindhupalchok erinnert sich auch an Kindheitserklärungen für Erdbeben. »Ich stellte mir einen Wal oder Delfin vor, der tief in der Erde lebte und durch seine Flossenbewegungen die Erde beben lassen konnte.«

Die Modelle der Wissenschaft für die natürlichen Ursachen von Erdbeben im Allgemeinen und dem Gorkha-Beben im Besonderen sehen natürlich ganz anders aus. Nepal liegt an der Himalaja-Hauptverwerfung. Unter dem Land schiebt sich die indische Platte etwa zwei Zentimeter pro Jahr unter die eurasische. Durch diese gewaltige Wucht werden seit einigen Millionen Jahren der Annapurna, der Mount Everest und die vielen anderen mehr als 7000 oder 8000 Meter hohen Berge des Himalaja aufgetürmt. Da sich die Kontinentalplatten nicht reibungslos untereinander schieben, entstehen in der Himalaja-Hauptverwerfung immer wieder Spannungen, die sich dann und wann als Erdbeben entladen.

Mamata Kakri hat ihr Haus, ihr Hab und Gut durch das Beben vor einem Jahr verloren. Mehr als 8700 Menschen kamen ums Leben. Zehntausende wurden verletzt. Zwei Millionen Familien wurden obdachlos. Den Familien der Toten und den Opfern wird die Erkenntnis der Seismologen und Geologen kein Trost sein, dass Nepal an diesem Apriltag noch mal mit einem blauen Auge davon gekommen ist. Das Beben sei erstaunlich milde ausgefallen, sind sich internationale Erdbebenexperten einig.

Der Bruch kam elf Kilometer unterhalb vor Kathmandu zum Stillstand. Das konnte ein Forscherteam um John Elliott von der Universität Oxford mit Hilfe hoch auflösender Satellitenbilder nachweisen. »Das ist erstaunlich bei einem so schweren Erdbeben. Normalerweise würde man erwarten, in der Landschaft einen großen Bruchgraben zu sehen«, sagt Elliott, Hauptautor einer unlängst im Fachjournal »Nature Geoscience« (DOI: 10.1038/ngeo2623) veröffentlichten Studie.

Elliot weiß aber auch: »Weil der obere Teil der Bruchlinie noch intakt ist, baut sich mit der Zeit kontinuierlich weiter Druck auf, je weiter die indische Platte sich Richtung Nepal bewegt. Weil aber dieser Teil der Bruchlinie näher an der Oberfläche ist, hat sie das Potenzial, bei einem Beben von ähnlicher Stärke wie das vom 25. April eine weitaus größere Auswirkung auf Kathmandu zu haben.«

Obwohl die Wissenschaftler noch weit davon entfernt sind, Erdbeben vorhersagen zu können, wagt Elliott eine düstere Prognose: »Untersuchungen früherer Erdbeben lassen vermuten, dass es bei einem plötzlicher Stopp eines Bruchs wie in diesem Fall eher Jahrzehnte als Jahrhunderte dauert, bis sich der Bruch fortsetzt.« Bei dem nächsten Beben könnte Kathmandu also nicht - aus wissenschaftlicher Sicht - so gelinde davonkommen.

Das Beben vom April 2015 und seine vielen Hundert Nachbeben in Kathmandu haben in erster Linie Häuser aus Backstein und vor allem Häuser mit mehr als zwei oder drei Stockwerken betroffen. Das Beben bestand laut einer von dem Geologen Jean-Philippe Avouac von der Universität Cambridge im August 2015 in »Nature Geoscience« veröffentlichten Studie in der Hauptsache aus niederfrequenten Wellen. Weil aber Kathmandu auf einer rund 500 Meter dicken, weichen Sedimentschicht erbaut ist, die durch das Beben wie ein Pudding wackelte, wurden diese niederfrequenten Wellen eher für große Gebäude zum Problem.

Im Westen von Kathmandu lauert laut Avouac eine weitere Gefahr. Westlich des beim Gorkha-Erdbeben gerissenen Bereichs erstreckt sich ein 800 Kilometer langer Streifen, in dem die Himalaya-Verwerfung noch immer verhakt ist. Das letzte schwere Erdbeben entlang dieser Linie hat sich 1505 ereignet. Nach Schätzungen der Seismologen erreichte es die Magnitude 8,5. Seit über 500 Jahren bauen sich im Untergrund dieser »seismischen Lücke« enorme Spannungen auf, die sich eher über kurz als über lang entladen werden.

Ein Beben solchen Ausmaßes aber wäre heute eine Megakatastrophe. Es würde nicht nur verheerende Schäden im dichtbesiedelten Kathmandu-Tal verursachen, sondern auch in den sehr bevölkerungsreichen indischen Bundesstaaten Bihar und Uttar Pradesh. Selbst die indische Metropole Neu Delhi könnte betroffen sein.

Das sind keine bloßen Spekulationen. Die Wissenschaftler leiten ihre Prognosen aus den Daten früherer Erdbeben ab. Nepals zweitgrößte Stadt, Pokhara, ist auf einem Gesteinstrümmerfeld aufgebaut, das durch drei starke Erdbeben im Mittelalter erzeugt wurde. Diese drei Erschütterungen mit Stärken um 8 verursachten um 1100, 1255 und 1344 gewaltige Erdrutsche. Ein internationales Team von Geoforschern unter Leitung der Universität Potsdam stellte fest, dass sich katastrophale Ströme von Schlamm und Gestein über eine Strecke von mehr als 60 Kilometern aus dem Annapurna-Massiv ins Tal ergossen.

Ein weiteres Beben ereignete sich 1681. Diese Information haben die Potsdamer Wissenschaftler einem gewaltigen Gesteinsbrocken entlockt, der auf der Sedimentschicht von Pokhara liegt. »Dieser Brocken hat fast zehn Meter Durchmesser und wiegt rund 300 Tonnen. Wir haben an seiner Oberfläche die Konzentration von Beryllium-Isotopen gemessen, die durch kosmische Strahlung entstehen«, sagt Christoff Andermann vom Deutschen Geoforschungszentrum Potsdam.

»Ob dieser Geröllbrocken mit einem Sedimentstrom transportiert wurde oder sich durch die Kraft des Bebens einfach umgedreht hat, lässt sich noch nicht mit absoluter Sicherheit feststellen, aber einem Bebenereignis vor rund 330 Jahren lässt er sich zuordnen.« Forschern wie Laien in Indien und Nepal ist auch noch das schwere Erdbeben der Magnitude 8 in Erinnerung, dass 1934 Nepal und Bihar erschütterte.

All diese Studien kennt Mamata Karki nicht. Aber die junge Frau aus Lamosanghu glaubt auch nicht mehr an einen Wal im Erdinneren, der mit seinen Flossen die nepalesische Welt immer wieder mal wackeln lässt. »Heute weiß ich, dass Erdbeben eine natürliche Ursache haben«, sagt Karki. Mit den Wissenschaftlern ist sich die Mutter eines kleinen Sohnes in einem einig: »Eines Tages wird es wieder ein schweres Erdbeben geben.«

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