Der jüdische Häftling und der deutsche Hauptmann

Zwei authentische Zeugnisse aus nazistischer Terrorherrschaft. Von Ernst Reuß

  • Ernst Reuß
  • Lesedauer: 2 Min.

Kurz nach seiner Befreiung aus dem Konzentrationslager Buchenwald am 11. April 1945, begann Mordechai Strigler seine Erfahrungen im Vernichtungslager Majdanek in literarischer Form zu verarbeiten. Das Buch wurde bereits 1947 auf Jiddisch veröffentlicht. Es ist dem Herausgeber Frank Beer, der bereits mehrere Augenzeugenberichte sicherte und publizierte, zu verdanken, dass dieses Buch nun auch auf Deutsch erschien.

Der Schriftsteller Strigler, der 1998 als 80-Jähriger in New York starb, ist nach dem Einmarsch der Deutschen in Warschau zur Zwangsarbeit verschleppt worden. Er durchlitt zwölf Arbeitslager. Seine Eltern und drei seiner sieben Schwestern wurden von den Nazis ermordet. Sein Bericht ist keine nüchterne Schilderung des Alltags jüdischer Häftlinge, er erschüttert und entsetzt. Authentisch ist das Grauen in den faschistischen Vernichtungslagern wiedergegeben, in denen »Homo homini lupus«, der Mensch des Menschen Wolf war.

Eine Anklage aus anderem Blickwinkel stammt von einem Wehrmachtsoffizier: »Wir sind so gern geneigt, einem anderen die Schuld zu geben und sie nicht bei uns selbst zu suchen ... Wir haben seinerzeit, als die Nazis an die Macht kamen, nichts getan, um es zu verhindern. Wir haben die eigenen Ideale verraten, das Ideal der persönlichen Freiheit, der demokratischen Freiheit, der religiösen. Der Arbeiter lief mit, die Kirche sah zu. Der Bürger war zu feige, ebenso die führenden geistigen Schichten. Wir ließen zu, dass die Gewerkschaften zerschlagen wurden, dass die Konfessionen unterdrückt wurden, es gab keine freie Meinungsäußerung in Presse, Rundfunk. Zuletzt ließen wir uns in den Krieg treiben.« Dies schrieb Wim Hosenfeld am 6. Juli 1943 in sein Tagebuch. Der ehemalige Lehrer war in Warschau stationiert und verurteilte deutschen Besatzungsterror. Erst durch Roman Polanskis Film »Der Pianist« erfuhr die Welt von diesem mutigen Hauptmann der Wehrmacht, der u. a. den polnisch-jüdischen Pianisten Wladislaw Szpilman rettete.

»Ich versuche jeden zu retten, der zu retten ist«, schrieb der Christ seiner Frau. Er war angewidert vom Verhalten seiner Landsleute in Warschau und versuchte zu helfen, wo es ihm möglich war. Sein eigenes Leben hingegen konnte er nicht retten. Nach der Gefangennahme durch die Rote Armee glaubte ihm dort tragischerweise niemand seine Geschichte. Er starb sieben Jahre nach Kriegsende, mit 57 Jahren, als verurteilter Kriegsverbrecher in sowjetischer Gefangenschaft. Die israelische Holocaustgedenkstätte Yad Vashem ernannte Hosenfeld Ende 2008 zum »Gerechten unter den Völkern«. Und Hermann Vinke setzte ihm nun mit einem Buch ein Denkmal.

Mordechai Strigler: Majdanek, Verloschene Lichter. Ein früher Zeitzeugenbericht. Zu Klampen. 228 S., br., 24 €. Hermann Vinke: »Ich sehe immer den Menschen vor mir«: Das Leben des deutschen Offiziers Wilm Hosenfeld. Arche. 352 S., geb., 22,99 €.

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