Archimedische Punkte

Mehr Fortschritt wagen: Warum die Linkspartei den Platz der »radikalen Linken« einnehmen muss - und zwar mit praktisch verfolgbaren Lösungsansätzen. Von Thomas Falkner

  • Thomas Falkner
  • Lesedauer: 18 Min.

Christian Lindner, der FDP-Vorsitzende, hat nach seinem Bundesparteitag im April einen Bonmot geliefert: von all den sozialdemokratischen Parteien in Deutschland stehe den Freien Demokraten die CDU nach wie vor am nächsten. Freundlicher, aber auch bestimmter kann man sich wohl weder von der AfD abgrenzen noch innerhalb des demokratisch-pluralistischen Lagers eine eigenständige Position behaupten.

Wie ist das mit der LINKEN? Man kann wohl davon ausgehen, dass sie in Lindners Bild eine der sozialdemokratischen Parteien in Deutschland ist - und vermutlich darunter diejenige, die ihm am fernsten steht. Doch ist das so? Und sagt das etwas über DIE LINKE, über uns, aus? Klaus Ernst hat dieser Tage gewarnt, der LINKEN drohe die »eigentliche Gefahr … durch die zum Teil selbst verschuldete strategische Bedeutungslosigkeit«. Und dann stellt er angesichts des AfD-Hypes eine - allerdings nur scheinbar - gewagte These auf - nämlich die, »dass die wirkliche politische Repräsentationslücke mittlerweile im Mitte-Links-Spektrum klafft«.

Klaus Ernst hat recht. Die parteipolitischen und parlamentarischen Umbrüche, die die Landtagswahlen vom März 2016 sichtbar gemacht haben, wurzeln letztlich in einer größeren Zahl politischer, ökonomischer und struktureller Krisen sowie in Modernisierungsprozessen unterschiedlicher Art und in den sozialen Spannungen, die von all dem ausgehen. Dass sich angesichts dessen auf der rechten Seite bislang marginalisierte Milieus zusammenfinden, organisieren und eine - jetzt auch parlamentarische - Kraft der politischen und kulturellen Revanche und des gesellschaftspolitischen Roll-back formieren, ist nur ein Teil der Auswirkungen davon. Dass sie auch in der sozialen Frage Deutungsmacht erlangt, obwohl oder gar weil sie wirtschaftspolitisch nicht nur neoliberale, sondern auch stramm nationalliberale Positionen bewahrt hat, macht deutlich, in welchem Ausmaß die traditionellen Parteien Antworten, Vorschläge und auch selbstkritische Reflexion zu den galoppierenden gesellschaftlichen Veränderungen schuldig geblieben sind.

So richtig es einerseits ist, dass die Parteien des demokratisch-pluralistischen Lagers und dann auch die Parteien des Mitte-Links-Spektrums gemeinsame Antworten auf die reaktionären Herausforderungen von rechts brauchen, so richtig ist es erst recht, dass es bei diesen Auseinandersetzungen nicht in erster Linie auf die bloße Vielzahl der - im Sinne Lindners - »sozialdemokratischen Parteien« ankommt, sondern darauf, dass die Repräsentationslücke gefüllt wird, von der Klaus Ernst spricht. Und das wiederum gelingt nur, wenn die Parteien des Mitte-Links-Spektrums ihren jeweils spezifischen Beitrag für die Fortentwicklung der sozialen Demokratie leisten und genau deswegen, auch da hat Klaus Ernst recht, kooperationsfähig werden.

Missverstanden, missinterpretiert

Wie das gehen kann - inhaltlich wie parteiorganisatorisch -, haben Katja Kipping und Bernd Riexinger in ihrem Positionspapier zum bevorstehenden Bundesparteitag entwickelt. Wie jede relevante politische Konzeption ist auch diese in unseren Reihen zunächst missverstanden, zum Teil auch missinterpretiert worden. Der Text ist ganz eindeutig nicht das, was ihm einige in und einige außerhalb der Partei unterstellen. Er ist keine Absage an gestaltende Politik. Er ist keine Flucht in die Fundamentalopposition. Er baut kein Traumschloss für die Partei in der Gesellschaft. Und er kanonisiert nicht die Erzfeindschaft gegenüber der SPD als identitätsbestimmendes Element der Partei DIE LINKE.

Zunächst ist der Text wohl vor allem eines: Ein gutes Argument dafür, dass diese beiden Vorsitzenden ihre Arbeit an der Spitze der Partei fortsetzen. Die gewerkschaftlich geprägten Erfahrungen und Positionen des Älteren verknüpfen sich durchaus organisch und auf gemäßigte Weise mit den sozialpolitischen Auffassungen und modernen Perspektiven der Jüngeren. Das gemeinsame Konzept beider für die Stabilisierung der Partei nach Göttingen - die Politik des Zuhörens, die Idee der »verbindenden Partei« - wird jetzt auf die (Wieder-)Verankerung der Partei in der Gesellschaft angewendet.

Freilich: In Analyse und Konzept bedienen sich beide einer radikaleren Sprache als gewohnt. Doch nur weil die Linke in den letzten Jahren und Jahrzehnten zu oft und zu gedankenlos das Ende von Demokratie und Rechtsstaat ausgerufen hat, ist doch die Warnung vor den autoritären Gefahren der Gegenwart, vor dem Kulturkampf von rechts jetzt nicht falsch! Auf gestaltende Politik von links und aus dem Mitte-Links-Lager heraus zu setzen, ein »gesellschaftliches Lager der Solidarität« anzustreben - all das darf doch nicht den Blick vor der Tatsache verschließen, dass es derzeit kein linkes Lager von Parteien gibt! Nur weil Teile der Linken über Jahrzehnte ein letztlich abenteuerliches und in der Praxis pervertiertes Verständnis von der »sozialen Revolution« hatten, darf man sich doch nicht darüber hinwegtäuschen, dass Neoliberalismus und finanzmarktgetriebener Kapitalismus gesellschaftspolitisch in die Sackgasse geraten sind und demzufolge ein grundsätzlicher Neuansatz gefunden und durchsetzt werden muss! Die Linke wäre ohnehin klug beraten (gewesen), in Sachen Revolution sich nicht die Marxsche Formulierung von den »Lokomotiven der Geschichte« aktionistisch zurechtzubiegen, sondern sich Walter Benjamins Sicht auf Revolutionen als »der Griff des in diesem Zug reisenden Menschengeschlechts nach der Notbremse« zu eigen zu machen. Aber Kipping und Riexinger sind hier über jeden Verdacht erhaben, ihr Revolutionsbegriff ist sauber definiert und auf den aktuellen radikalen Veränderungsbedarf hin entwickelt. Damit sind wir beim Schlüsselwort: radikal.

Radikale Linke und pragmatische Politik

Katja Kipping und Bernd Riexinger sagen klar: Wir »stehen wir vor der Herausforderung, unsere Rolle in der Gesellschaft neu zu finden und uns weiterzuentwickeln.« Und sie machen deutlich: Eine von mehreren »sozialdemokratischen Parteien« zu sein, wird dafür nicht ausreichen. So ist es.

Unser Verhältnis zur Sozialdemokratie war seit 1989/90 stets widersprüchlich. Natürlich war der Weg der PDS, als sie sich aus den Trümmern der parteikommunistisch-staatssozialistischen SED aufmachte, im Kern auch eine »Sozialdemokratisierung« - die allerdings nie in die SPD oder die damals noch bestehende Sozialistische Internationale führte, führen konnte oder führen sollte und die dennoch Nähe und Überschneidungen mit sich brachte.

Als die PDS in der Linkspartei aufging, traf sie auf Menschen, die sich aus der SPD, aus der bundesdeutschen Sozialdemokratie aufgebrochen waren und nie wieder so sein wollten, wie sie unter Schröder hatten werden sollen. Verbindende Idee blieb die seit 1990 von der PDS bemühte These von der europäischen Normalität einer Partei links von der Sozialdemokratie. Doch was dies bedeutet, blieb letztlich stets unklar - und wurde nur dort scharf, bisweilen schrill, wo das »links von der Sozialdemokratie« auf »nie und nimmer so wie die SPD« reduziert wurde.

Macht man sich von Ningeligkeiten und Vorurteilen frei, denen Politik und Öffentlichkeit in Deutschland in den zurück liegenden Jahrzehnten unter der Last spezifischer Umstände gefolgt sind, so ist parteien-systematisch klar: Es geht um den Platz der »radikalen Linken«, der radikal left. Harald Pätzolt hat darauf in jüngerer Zeit mehrfach deutlich hingewiesen. Und auch Jörg Schindler und Tobias Schulze machen in ihrem wegweisenden Aufsatz über »die neue Unübersichtlichkeit« vom März 2016 darauf aufmerksam, dass sich DIE LINKE »durchaus fragen (muss), ob und in welchem Maße wir in den letzten Jahren hier zuviel Energie in die Erklärung und Verwaltung des Mangels, zugleich zuwenig Energie darin verwendet haben, Protest und Alternativen zu unterstützen oder wenigstens denkbar zu halten.«

Der Platz der radical left

Diesen Platz der radical left gibt es in den entwickelten westlichen Gesellschaften tatsächlich - aber er ist nicht selbstverständlich vergeben. Und schon gar nicht auf ewig.

Bis 1989/90 wurde er in Westeuropa weitgehend von den Kommunistischen Parteien eingenommen - allerdings mit beträchtlichen Anpassungsleistungen, sofern sie erfolgreich und gesellschaftlich verankert waren: Stichwort »Euro-Kommunismus«. Doch so sehr sich die Euro-Kommunisten der Idee von Demokratie und Pluralismus geöffnet hatten und im politischen Alltag handlungsfähig geworden waren - über die Zeitenwende hinaus waren ihre Parteien letztlich nicht lebensfähig. Das zeigen ihr Niedergang in Frankreich und Spanien; noch deutlicher der Transformationsprozess in Italien. Gerade dort, wo die eurokommunistische radikale Linke der entscheidende Gegenpol zu den »Systemparteien« war, fiel der (sozial-)demokratische Umbau am entschiedensten aus. Und ließ zugleich Raum für eine neue radical left, die allerdings programmatisch in der Spätphase des »kurzen 20. Jahrhunderts« (Hobsbawm) hängen blieb und so schließlich doch noch zugrundeging.

Deutschland hat in dieser Hinsicht einen besonderen Weg hinter sich - geprägt durch den Kalten Krieg und die Spaltung Deutschlands wie durch die Zeitenwende 1989/90: durch den antikommunistischen Grundkonsens der westdeutschen Gesellschaft und die teilweise Integration der radikalen Linken samt Sympathisanten des Eurokommunismus in die SPD Willy Brandts einerseits und das lange Scheitern von Staatssozialismus und Parteikommunismus in Ostdeutschland bei gleichzeitiger Bewahrung und späterer Renaissance der Wertestrukturen eines demokratischen Sozialismus andererseits.

Kristallisations- und Bezugspunkt dieser Entwicklungen in den 1990er Jahren war die PDS, mit der es möglich war, den Weg aus einer mehr oder weniger deutlichen Pro-DDR-Haltung und aus der SED in die neuen Verhältnisse im wesentlichen »erhobenen Hauptes« zu gehen. Es war zwar auch ein Weg kritischer Distanz, auf dem die neuen Realitäten an Erfahrungen und Werten einer traditionellen Arbeitsgesellschaft, an egalitären und radikal-demokratischen Vorstellungen gemessen wurden. Aber in seinem Wesen war er eine Anpassungsleistung. Die bestimmte die 90er Jahre. Sozialistische Vorstellungen wurden geistig wie praktisch anschlussfähig an parlamentarische Demokratie, Pluralismus und Marktwirtschaft (gemacht).

Die Rolle von Oskar Lafontaine

In den 2000er Jahren ändert sich das und die Spaltung der SPD angesichts des sozialen Protestes gegen die Agenda 2010 - den Bruch des rheinischen Sozialstaats-Versprechens - prägte die Verhältnisse auf der Linken. Große Teile der sozialkonservativ geprägten Sozialdemokratie und der mehr oder weniger integrierten westdeutschen radikalen Linken machten sich auf den Weg zur Eigenständigkeit - und folgten ihrer politischen Leitfigur Oskar Lafontaine. Sein politisches Talent und seine symbolische Wirkung hatten maßgeblich dazu beigetragen, den traditionell sozialdemokratisch geprägten Milieus eine Perspektive zu geben, sondern auch die westdeutsche radikale Linke in einer jahrzehntelang - über 1989/90 hinaus - in einer antikommunistisch geprägten Mehrheitsgesellschaft parteipolitisch zu binden oder überflüssig zu halten.

Zugleich stand Lafontaine stets auch in der Mitte der (westdeutschen Teil-)Gesellschaft und spielte mit dem Wunsch, sogar die im rechten Spektrum an sozialen Fragen Interessierten einzubinden. Sein Versuch, daraus den Prototyp des Radikal-Linken in Deutschland zu entwickeln, scheiterte letztlich an den vielfachen inneren Widersprüchen dieses Modells, seiner mangelnden Überzeugungskraft in Ostdeutschland und dem mangelhaften Zugang zu den perspektivisch relevanten Fragen einer modernen Gesellschaft.

Es kam Göttingen: In der Katharsis erwuchs die Chance, den sozialkonservativen Furor mit der Anpassungsleistung Ost zu verbinden - und so den Platz der radical left in Deutschland zu finden. Diese LINKE kann weder die alte PDS noch die WASG sein. Sie wird eine klar demokratische, pragmatische, zukunftsorientierte und in diesem Sinne radikale neue LINKE sein. Die Träume, die SPD zu überrunden, zu spalten, überflüssig zu machen etc., haben damit einstweilen keine Basis mehr. Zu einer wirklichen Herausforderung für die SPD aber wird die LINKE erst, wenn sie diesen Entwicklungsschritt zur radical left geschafft hat. Denn: Die Radikale Linke ist zwar in den entwickelten westlichen Gesellschaften eine »kleine Partei« (Harald Pätzolt) - in bestimmten geschichtlichen Wendesituationen kann sie aber (erneut) zum entscheidenden Gegenpol der etablierten Kräfte werden (Griechenland/SYRIZA). Einerseits muss sie sich jeglicher Hybris enthalten, andererseits bereit (und fähig!) sein zur Führung - das ist die strategische Herausforderung.

Radikalität in der »Systemfrage« - oder in der Praxis

Als die Kommunisten den Platz der Radikalen Linken einnahmen, äußerte sich ihre Radikalität in der »Systemfrage« nach dem Sturz des Kapitalismus - verbunden mit teils überraschendem Pragmatismus in der Kommunalpolitik oder sogar in nationalen Regierungsbeteiligungen (wie in Frankreich). Auf der Suche nach dem Platz der Radikalen Linken in Deutschland hat sich auch für DIE LINKE dieser Dualismus als nicht tragfähig erwiesen. Andere, wie SYRIZA, die nicht an das System des Kapitalismus selbst, wohl aber die politischen Strukturen, die transnationalen Verflechtungen und Interessengeflechte auf einen Schlag und noch dazu aus einer Position der Schwäche heraus Hand anlegen wollten, sind damit ebenfalls gescheitert.

Was ist Schlussfolgerung? Nicht die Radikalität von Fragestellung und Analyse, die Radikalität der Zukunftsvision oder der fundamentalen Alternative allein machen die moderne radical left in diesen Zeiten aus, sondern die Radikalität praktisch verfolgbarer Lösungsansätze. Was ist jetzt unausweichlich zu tun - im Interesse des Gemeinwesens, des sozialen Zusammenhalts, im Interesse des sozialen Sicherheitsgefühls der Menschen?

Nicht umsonst hat sich die aus PDS und WASG zusammen wachsende Partei auf das »strategische Dreieck« einigen können, das den Abschluss des Erkenntnisweges der PDS nach dem Ende der 90er Jahre ausmachte. »Für sozialistische Politik nach unserem Verständnis bilden Widerstand und Protest, der Anspruch auf Mit- und Umgestaltung sowie über den Kapitalismus hinaus weisende Alternativen ein unauflösbares strategisches Dreieck« - so war die Denkfigur im Beschluss des Potsdamer Bundesparteitages der PDS im Oktober 2004 beschrieben worden. Lothar Bisky, damals Bundesvorsitzender der PDS und später der LINKEN, erklärte dazu später, »dass es dabei nicht um alternativ aus- bzw. abwählbare Ansatzpunkte demokratisch-sozialistischer Politik geht, sondern darum, ein Spannungsfeld produktiv auszufüllen«. Die» Reduzierung auf den einen oder anderen Lieblings-Eckpunkt« wies er klar zurück.

Doch genau diese Gefahr wurde zu oft nicht vermieden - die Neigung einzelner Akteure, sich eben doch genau den Eckpunkt auszusuchen, der ihren persönlichen Neigungen am ehesten entsprach und sich dort gegen jene auszusprechen, die die anderen Eckpunkte mit eben solcher Ausschließlichkeit bezogen hatten, brachte die Partei mehrfach an den Rand des Auseinanderbrechens und schmälerte im Ergebnis ihre gesellschaftliche Verankerung, das Vertrauen in die Konsistenz, Berechenbarkeit und Zuverlässigkeit linker Politik. Die von Katja Kipping und Bernd Riexinger seit ihrer Wahl zu den Bundesvorsitzenden der LINKEN verfolgte Linie der »verbindenden Partei« ist der erste halbwegs gelingende Versuch, diese Polarisierungen zu überwinden, sich auf das tatsächliche und notwendige Spannungsfeld zu besinnen und es produktiv zu machen.

Die neue soziale Idee - und was sie ausmachen sollte

Freilich stehen dabei noch durchaus wichtige programmatisch-inhaltliche Schritte aus. Schon vor über zehn Jahren ist die entstehende Linkspartei mit dem Ruf nach und mit der Ankündigung einer »neuen sozialen Idee« in die damaligen Bundestagswahlen gezogen. Doch seither stand dennoch eher das Zurück hinter die Schröder-Münteferingschen Reformen der 2000er Jahre im Zentrum linker Politik, nicht das Vorwärts zu neuen, zukunftsorientierten Strukturen.

Sicher, die uralten sozialen Ideen der Arbeiterbewegung und der christlichen Sozialethik sind heute so aktuell sind wie noch nie - aber was bedeuten sie unter den Bedingungen von Globalisierung und HighTech-Wirtschaft jedoch, von demografischem Wandel, hochgradig ausdifferenzierter Gesellschaft und weltweiten Kommunikationsnetzen? Unter diesen Bedingungen den uralten zivilisationsgeschichtlichen Geboten von Mitmenschlichkeit zu entsprechen - das ist die Herausforderung. Das zu erfassen - das ist die neue soziale Idee.

Drei Grundelemente wird sie haben müssen:

Erstens. Die Gesellschaft, Politik und Wirtschaft, müssen wieder lernen, dass es stets - also auch heute - eine Verantwortung aller für alle gibt. Politik hat hier eine große, aber keine alleinige Verantwortung. Wer glaubt, es reiche, dass Politik entsprechende Antworten durchdrückt, der schwenkt auf den letztlich autoritären Irrweg ein. Der europäische Sozialstaat ist auch vor 130 Jahren nur dem Anschein nach »von oben« eingeführt worden - in Wahrheit institutionalisierte er seither stets Formen von Selbstorganisation und Solidarität »unten«, unternehmensinterne Wohlfahrtsregeln für Alte und Sicherungssysteme gegen Krankheit, klassische Mildtätigkeit und Ergebnisse von Klassenkämpfen ebenso wie die Aushandlungsprozesse von »Kapital und Arbeit« - verbunden mit Garantien und Zuschüssen des Nationalstaates. Für die Reorgansation des Sozialstaates reicht es deswegen auch heute nicht aus, nur auf den Staat, auf seine Gesetze und sein Geld, zu schauen. Das Versagen der Reformpolitik erklärt sich auch aus dem fehlenden innovativen Unterbau in der Gesellschaft, aus der alleinigen Verantwortungszuweisung an den Staat. Politik, die dies erkannt hat, wird sich nicht zuerst auf die Verwaltung der Missstände und die Durchsetzung entsprechender Maßnahmen konzentrieren, sondern alles dafür tun, die kreativen, innovativen Kräfte in der Gesellschaft frei zu setzen.

Zweitens verlangt eine neue soziale Idee zu klären, wie die Menschen auch angesichts der neuen Risiken von heute nicht unter ein bestimmtes Lebensniveau abstürzen, wie dieses Lebensniveau aussehen muss und wie es zu erreichen ist. Es wäre infam zu versprechen, man könne die Risiken ausschließen. Es ist zynisch, sich nur auf jenen immer kleiner werdenden Teil zu konzentrieren, der immer noch stark gegen die Risiken abgeschirmt ist - durch Tarifkartelle, durch Regeln des öffentlichen Dienstes, durch das Beamtentum, durch starke Lobbys, durch Eigentum und Vermögen. Risiken können nicht ausgeschaltet werden - aber ihre Folgen für die Menschen müssen Gegenstand von Politik, Inhalt einer neuen sozialen Idee sein. Dabei geht es um mehr als Essen und Wohnen. Es geht um Teilhabe an gesellschaftlichen Prozessen, um Kommunikation, um Beteiligung am Fortgang der Wissensgesellschaft. Auch hier ist vor allem ein neuer gesellschaftlicher Konsens gefragt, nicht staatliche Verordnung.

Drittens schließlich ergibt sich aus der Einsicht in die Unabwendbarkeit von Risiken für die neue soziale Idee die Schlussfolgerung, dass dem Auf und Ab in Wirtschaft und individuellen Leben immer wieder auch ein Auf folgen muss - und dass dies nicht allein den persönlichen Anstrengungen und Glücksumständen überlassen sein kann. Schon deswegen nicht, weil ja auch das Ab in aller Regel nicht in erster Linie individuell verschuldet, sondern durch gesellschaftliche Umbrüche bedingt ist.

Die neue soziale Idee - das ist hier mehr als Solidarität, Wohltätigkeit und kostenintensiver Sozialstaat zur Alimentierung Benachteiligter. Sie ist auch nicht in irgendeiner Statik von Arm und Reich, Oben und Unten zu erfassen. Wo es um den Weg der Gesellschaft als Ganzes in eine neue Welt geht, sind Klientelismus und Gruppenegoismus ungeeignete Begleiter oder gar Wegweiser. Gesellschaften im Umbruch müssen, wenn sie die Dynamik beherrschen wollen, genau diese Dynamik aufnehmen - auch die soziale.

Privilegierte von alten Umständen und Nutznießer von neuen Entwicklungen übernehmen überdurchschnittliche Verantwortung für bzw. gegenüber denjenigen, die abgehängt wurden, die nicht so schnell mit kommen, die es aus eigener Kraft nicht schaffen können. Das betrifft nicht nur ihren Anteil an der Finanzierung der laufenden Ausgaben von Staat und sozialen Sicherungssystemen oder ihre Verantwortung für den Schuldenabbau. Es betrifft auch individuelle wie immaterielle Dinge: Von der Bereitschaft, das Leistungsangebot eines Existenzgründers auch dann nachzufragen, wenn man die Sache ggf. auch selbst am Wochenende oder vom Nachbarn erledigen lassen könnte, bis hin zu der Bereitschaft, eigene Kenntnisse und Erfahrungen im Ehrenamt weiter zu geben. Letzten Endes geht die neue soziale Idee aber alle an - nicht nur diejenigen, die geben können, sondern auch diejenigen, die nehmen. Dass es nach dem Ab auch wieder ein Auf gibt, braucht die Unterstützung aus der Gesellschaft ebenso wie das Engagement, die Kreativität und auch die Risikobereitschaft des einzelnen, der Betroffenen.

Umverteilung und ein anderes Regulationsregime

Die Herausforderungen des »Systems« annehmen, die soziale Frage, wie sie sich unter diesen Umständen stellt, ins Zentrum rücken und dem »System« aus der Mitte des strategischen Dreiecks und in alle Richtungen blickend Veränderungen im Interesse der Menschen aufzwingen - das dürfte die zentrale politische Methode der radical left sein, die damit zugleich den Hebel an archimedische Punkte ansetzt, von denen aus weitergehende Umbrüche erreicht werden können.

Ein Beispiel: Kipping und Riexinger bekennen sich in ihrem Papier in klassisch linker Manier zu einer »radikalen Umverteilung des Reichtums« als der »Grundlage dafür, dass wir die drängenden gesellschaftlichen Probleme lösen können«. Aber zugleich setzen sich auf die »gesellschaftliche Kontrolle über die Banken und die Schrumpfung der Finanzmärkte«. Und hier fängt die Arbeit für die radical left erst mal richtig an. Denn bloß den Superreichen zur Finanzierung gesellschaftlicher Belange einen möglichst großen ihres Ertrags aus dem finanzmarktgetriebenen Kapitalismus nehmen zu wollen, würde ja relativ schnell zu dem Interesse daran führen, diese Spielart des Kapitalismus zu verstetigen, damit immer wieder neu etwas von den Superreichen geholt werden kann.

Radikal linke Politik muss aber auf ein anderes Regulationsregime setzen, auf den geordneten Abfluss von Mitteln aus der gigantischen virtuellen Finanzblase, mit der die sog. »Finanzindustrie« operiert, und ihre Umleitung in die sog. Realwirtschaft. Sie muss darauf hin arbeiten, das Geld als Tausch- und Zahlungsmittel aus den Klauen der Spekulation zu befreien und zu einem öffentlichen Gut zu machen - denn das ist es seinem ursprünglichen Zweck nach: ein öffentliches Kommunikationsmittel in einer hochgradig arbeitsteiligen Gesellschaft. Das führt direkt zu Neuordnung des Systems der Geldschöpfung und damit zum Umbau des Bankensystems zugunsten der Zentralbanken und zu Lasten der vornehmlich privaten Geschäftsbanken.

Das ist der Kern der Sache - und da geht es um mehr als um die öffentliche Kontrolle über Bankhäuser. Das Interesse an einer solchen Überführung des Finanzsystems in eine dienstleistende Rolle für Wirtschaft und Gesellschaft reicht weit über die Linke hinaus - die Erfahrung spätestens seit 2008 zeigen aber, dass Fragen wie diese nur über eine starke, zur nachhaltigen politischen Intervention fähige radikale Linke auf die Agenda geraten und dann auch bearbeitet werden.

An die Stelle dieses finanzmarktgetriebenen Systems muss und wird ein anderes treten: ein System, das vorrangig auf Information, Digitalisierung, Innovation aller Lebens- und Wirtschaftsbereiche beruht. Ein System, in dem sich eine alte, in der Linken lange verschüttete Erkenntnis des Ökonomen und Gesellschaftstheoretikers Karl Marx bestätigen wird: dass nämlich die - wie er es ausdrückte - Produktivkräfte das vor allem treibende Element gesellschaftlicher Entwicklung sind. Und das in einer Dynamik, die bislang kaum vorstellbar erscheint und die Erfahrungen aller Generationen sprengen wird.

Für DIE LINKE wie für die Linke insgesamt wird das nur zu bewältigen sein, indem man sich den Fortschrittsgedanken wieder zu eigen macht. Indem Fortschritt als Herausforderung und Chance begriffen wird - in diesem Sinne positiv belegt wird. Vieles ist und wird möglich, was das Leben der Menschen verbessern kann - die Aufgabe der Linken ist es nicht, diese Entwicklungen stoppen, verzögern oder an andere Orte der Welt drängen zu wollen. Aufgabe der radikalen Linken ist es, Fortschritt zu ermöglichen, ihm eine Richtung zu weisen und ihn so mit sozialen Innovationen zu begleiten, dass sich Technisches, Ökonomisches und Gesellschaftliches zum Nutzen der Menschen verbinden.

Dr. Thomas Falkner, Jahrgang 1957, hat Journalismus studiert und bis Mitte der 1990er Jahre bei Rundfunk und Zeitungen gearbeitet. Ende der 1990er Jahre wurde er Leiter des Bereichs Strategie und Grundsatzfragen beim PDS-Vorstand unter dem damaligen Vorsitzenden Lothar Bisky. Er hat Bücher geschrieben und ist heute noch für die Linkspartei tätig.

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