»Ihr habt uns das eingebrockt«

SPD-Chef Gabriel muss sich bei Gerechtigkeitskonferenz für Agendapolitik rechtfertigen

  • Aert van Riel
  • Lesedauer: 4 Min.
Viele Menschen trauen den Sozialdemokraten nicht zu, für soziale Gerechtigkeit sorgen zu können. Nun wurde dieses Problem bei einer Konferenz in der Berliner Parteizentrale erörtert.

Über mangelndes öffentliches Interesse können sich die Sozialdemokraten an diesem Montagmorgen nicht beklagen. Neben Parteimitgliedern sind auch zahlreiche Journalisten ins Willy-Brandt-Haus gekommen. Sie wollen bei der »Wertekonferenz Gerechtigkeit« vor allem den SPD-Vorsitzenden Sigmar Gabriel beobachten, über den Rücktrittsgerüchte verbreitet werden. Die sogenannten Informanten, die einen baldigen Wechsel in der Parteispitze prognostizierten, hatten den Kontakt zu den Zeitschriften »Stern« und »Focus« gesucht.

Doch vorerst bleibt in der SPD alles beim Alten. Trotz der schwindenden Beliebtheit der Partei werden Gabriel und Generalsekretärin Katarina Barley im lichtdurchfluteten Atrium der Parteizentrale mit Applaus empfangen. Die bereits zuvor von ihm und weiteren Mitgliedern der Parteispitze dementierten Rücktrittsgerüchte erwähnt der SPD-Chef in seiner 45-minütigen Eröffnungsrede mit keinem Wort. Er betont vielmehr die vermeintlichen Erfolge der Sozialdemokraten in der Großen Koalition. Die Änderungen in der Rentenpolitik, der Mindestlohn und die sogenannte Mietpreisbremse haben aber nur wenigen Menschen wirklich geholfen. Das Misstrauen gerade in ärmeren Bevölkerungsschichten gegenüber der SPD ist weiterhin groß. »Für uns ist der Ansehensverlust in der Kernkompetenz existenzbedrohend«, erklärt Gabriel. Es sei ein Alarmsignal, dass lediglich 32 Prozent der Bürger der SPD Lösungen in Fragen der sozialen Gerechtigkeit zutrauten.

Direkt nach seiner Rede erhält Gabriel Antworten darauf, warum das so ist. Neben ihm sitzt Susanne Neumann aus Gelsenkirchen. Die Frau trägt ihre grauen Haare kurz. Sie arbeitet als Gebäudereinigerin, ist Betriebsrätin und »seit einer Woche Mitglied der SPD«, wie Gabriel betont. »Wir Niedriglöhner leiden unter den Folgen der Schröder-Politik«, erklärt Neumann. Sie wolle sich in der SPD dafür einsetzen, dass die Agenda 2010 umgekehrt wird. Als Beispiel für die Missstände in ihrer Branche nennt sie die zur Regel gewordenen befristeten Verträge, durch welche die Unternehmer die Angestellten unter Druck setzen können. Probleme bekommt, wer sich wehrt oder krank wird. Die Frau sieht Gabriel in die Augen. »Warum soll ich eine Partei wählen, die mir das eingebrockt hat und mir keine Antworten gibt?«, fragt sie.

Mit ruhiger Stimme erklärt Gabriel, dass sich auch die SPD dafür eingesetzt habe, dass die sachgrundlose Befristung abgeschafft wird. Doch dies sei in der Koalition mit der Union eben nicht umsetzbar gewesen. Schlagfertig hakt Neumann nach: »Warum bleibt ihr dann bei den Schwarzen?« Diese Frage treibt offenbar noch mehr Anwesende um, die im Publikum laut applaudieren. Gabriel beruhigt die Stimmung etwas, als er zum wiederholten Mal an diesem Tag den Mindestlohn anspricht, den es ohne die SPD in der Bundesregierung nicht geben würde. Die naheliegende Frage, warum die Sozialdemokraten sich vor drei Jahren nicht für eine Koalition mit der Linkspartei geöffnet haben, in der zahlreiche soziale Verbesserungen möglich gewesen wären, wird hingegen nicht erörtert.

Mit der Konferenz beginnen die Debatten über das Programm für die Bundestagswahl im nächsten Jahr. Dann will sich Gabriel inhaltlich noch weiter von seiner linken Konkurrenz entfernen. An einzelnen Projekten wie der Bürgerversicherung im Gesundheitsbereich, in die alle einzahlen sollen, will er festhalten. Dass aber große Umverteilungsversprechen die sozialdemokratischen Wähler mobilisieren, glaubt Gabriel nicht mehr. Deswegen sieht er inzwischen die Wiedereinführung der Vermögensteuer skeptisch. In dieser Frage wird der SPD-Chef von den zur Veranstaltung eingeladenen Wirtschaftswissenschaftlern bestätigt. Michael Hüther vom wirtschaftsnahen Institut der deutschen Wirtschaft ist schon von Berufs wegen gegen hohe Steuern für Vermögende. Stattdessen lobt er die Hartz-Reformen und kann nicht verstehen, »warum die Grundsicherung heute so diffamiert wird«.

Marcel Fratzscher, Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), hält ebenfalls wenig von der Vermögensteuer. Immerhin sieht er aber große Ungleichheiten in der Bundesrepublik. »Um dagegen vorzugehen, sind eine Bildungsoffensive und mehr Steuergerechtigkeit notwendig«, erklärt Fratzscher. So müssten etwa Kapital und Arbeit gleich besteuert werden. Derzeit werden nämlich Menschen, die Einkommen durch Kapital erzielen, besser gestellt als die, die arbeiten gehen.

Das will auch Gabriel ändern. Er verspricht, dass seine Partei bei einer erneuten Regierungsbeteiligung nach der Bundestagswahl 2017 die pauschale Abgeltungssteuer von 25 Prozent abschaffen wolle. Doch auch hier haben die Sozialdemokraten ein Glaubwürdigkeitsproblem. Denn die heute von der SPD verteufelte Steuer hatte einst ihr eigener Genosse Peer Steinbrück als Finanzminister eingeführt.

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