Was hat der AfD-Erfolg mit Gramsci zu tun?
Schaut auf Sozialstruktur und Bewusstsein der Rechtsaußen-Wählerschaft: Überlegungen zur Strategiedebatte der Linken von Horst Arenz und Werner Dreibus
Es war zu erwarten: Der fulminante Wahlerfolg der AfD und die schlechten bis desaströsen Ergebnisse der Linkspartei bei den drei Landtagswahlen im März haben in der Öffentlichkeit und insbesondere in der Linkspartei eine kontroverse Debatte ausgelöst. Der Kernpunkt dreht sich um die Frage, wie mit der Wählerschaft der neuen Rechtspartei umzugehen ist. Während über die Einschätzung der Partei AfD als rechtspopulistische bis rechtsextreme, auf Abschottung gegen MigrantInnen abzielende Partei weitgehende Einigkeit besteht, gehen zur Wählerschaft die Bewertungen auseinander.
So lehnt es Sahra Wagenknecht ab, »pauschal alle Menschen, die sich angesichts hoher Flüchtlingszahlen noch stärker um Arbeitsplätze, Sozialleistungen, Wohnungen und steigende Mieten sorgen, in eine rassistische Ecke (zu) stellen« (Die Welt 23.3.). Axel Troost kritisiert diese Position und warnt dagegen vor der »Bedienung von Ängsten« (»Was folgt aus dem Rechtsruck«, Sozialismus online). Für Bundesgeschäftsführer Matthias Höhn ist die Frage, wie die an die AfD verlorene Wählerschaft zurückgewonnen werden kann, kein Thema (Magdeburger Volksstimme vom 22.4.) Auch Susanne Hennig-Wellsow sieht es nicht als ihren Auftrag an, auf AfD-Wähler zuzugehen (FAZ vom 21.3.). Bodo Ramelow vertritt hierzu eine konträre Position: In der Thüringer Allgemeinen vom 9.4. fordert er: »Wir müssen endlich die Ängste der Menschen ernst nehmen und uns mit ihnen auseinandersetzen, statt sie zu bekämpfen.« Für den linken Flügel wiederum ist die Sache ganz einfach: Die AfD hat auch wegen der Schwäche der Linkspartei gewonnen, und die ist so schwach, weil sie ständig Illusionen über Regierungsbeteiligungen verbreitet.
Die Differenz in den bislang präsentierten linken Antworten ist bemerkenswert. Die Linkspartei befindet sich zu dem Thema offensichtlich im Suchmodus. Das ist gut so und ist eine Chance. Sie würde allerdings verschenkt, wenn die Partei aus dieser Diskussion keine neuen Impulse für eine intensivere Strategiedebatte ableitet. Voraussetzung dazu ist, sich näher mit Sozialstruktur und Bewusstsein der Wählerschaft der AfD zu befassen.
Die AfD - ein Problem der bürgerlichen Mitte?
Dabei sollten bestimmte Einseitigkeiten und Engführungen vermieden werden. (Ausführlicher haben wir das in »Sozialismus« dargelegt.) So steht z.B. für Udo Wolf fest: »Die AfD ist ein Problem der bürgerlichen Mitte und nicht des Mitte-links-Spektrums.« (ND vom 4.5.) Wenn es nach einer Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft ginge, ist die AfD gar eine »Partei der Besserverdienenden«, 34 Prozent ihrer Anhänger würden zum reichsten Fünftel der Bevölkerung gehören. Folglich würden politische Gegenkonzepte wie die in der SPD diskutierte und auch in der Linkspartei geforderte soziale Investitionsoffensive »ins Leere laufen« (ND vom 1.5.). Die mit der auf zwei Jahre alten Umfragen basierenden Studie verknüpfte politische Stoßrichtung gegen SPD und Linkspartei sollte bei dem arbeitgebernahen Institut nicht überraschen. Beachtenswerter ist die Studie von Forsa, nach der 46 Prozent der AfD-Wählerschaft über ein Haushaltseinkommen von 3.000 Euro und mehr verfügen und die große Mehrheit Angestellte sind und Abitur haben (Sozialismus 4-16, S. 11, Einkommen ohne Angabe brutto oder netto). Allerdings datiert die Studie vom Herbst letzten Jahres. Zu dem Zeitpunkt kommt Forsa-Chef Güllner zu der Prognose, dass ein Einzug der AfD in den Landtag von Rheinland-Pfalz unwahrscheinlich ist.
Andere Untersuchungen kommen zu anderen Ergebnissen. So haben Bielefelder SoziologInnen (Zick/Küpper, Volkes Stimme? Rechtspopulistische Überzeugungen der Mitte) ermittelt: »Mit höherer Schulbildung sinkt die Neigung zum Rechtspopulismus recht deutlich. Ärmere Befragte neigen eher zum Rechtspopulismus, gefolgt von denjenigen mit mittleren Einkommen.« Für Horst Kahrs folgt aus der Untersuchung der aktuellen Ergebnisse der Märzwahlen, dass »DIE LINKE an die AfD vor allem Wähler_innen aus der sozialen Statusgruppe der Arbeiter und der Arbeitslosen sowie ‚Protestwähler‘ (verlor)«. Er verortet die AfD-Wählerschaft daher in der »unteren Hälfte der Bevölkerung« (in: Sozialismus 4_16, S. 5f). Die Einschätzung der beiden Parteivorsitzenden, dass »bei den letzten Wahlen … die AfD überdurchschnittlich stark in sozialen Brennpunkten abgeschnitten« hat, ist zutreffend.
Dies bestätigen Ergebnisse aus Halle, Ludwigshafen und dem Norden Mannheims. So erzielte die AfD in Halle im Stadtteil Südliche Neustadt, dem Stadtteil mit einem doppelt so hohen Anteil an Kinderarmut wie in der gesamten Stadt (63,4 vs. 34,7 Prozent), einen um 9 Prozentpunkte höheren Stimmenanteil als in Halle insgesamt. Im Mannheimer Norden erzielt die AfD in den Stadtteilen Schönau und Waldhof einen hohen Zugewinn bei ärmeren Haushalten, sichtbar am Anteil der Haushalte an Grundsicherung, Hartz IV und Langzeitarbeitslosigkeit (s. hierzu Arenz/Dreibus, Fußnote 1). Unbestritten ist die Erosion der Mittelschicht zentral zur Erklärung der AfD-Erfolge. Es wäre aber falsch, ihren Einfluss im armen unteren Quintil der Bevölkerung auszuklammern. Wenn in Österreich im ersten Wahlgang zur Präsidentenwahl 73 Prozent der Arbeiter den Kandidaten der FPÖ gewählt haben, verbietet es sich, Rechtspopulismus auf ein Problem der Mittelschicht zu reduzieren.
Die Verortung des neuen Rechtspopulismus in der »bürgerlichen Mitte« hat politische Konsequenzen. Ist die soziale Basis des »Mitte-links-Spektrums« nicht betroffen, lässt er sich als eine durch die Flüchtlingskrise verstärkte Stufe eines Rechtsaußen-Spektrums fassen, das hierzulande seit Jahrzehnten Fakt ist. Die neue Stufe wirft dann für die Linke keine neuen Fragen auf, das ist dann die Hausaufgabe des Bürgertums. Man hat es dann zu tun mit der allseits bekannten »Radikalisierung der Mittelschichten nach rechts«, der Republikaner, Sarrazin u.a. vor Jahren Ausdruck verliehen haben, und denen es »nur« um die Verteidigung von Privilegien geht. Eine ähnliche Wirkung wird mit der These produziert, die Märzwahlen »hatten Fragen der Identität, der Kultur, der Stabilität und der persönlich gefühlten Sicherheit zum Gegenstand – gerade nicht vorrangig Fragen von Verteilung und Gerechtigkeit« (ebd.). Zweifellos spielt die »kulturelle Ebene« (ethnische Vielfalt, Islam-Kritik, Modernisierungsdruck durch Globalisierung etc.) eine zentrale Rolle. Wer aber soziale Ursachen wie Ungleichheit und gerechte Verteilung in ihrer Bedeutung kleinredet, riskiert, die Analyse zu eng zu führen und die Ausstrahlung der »rechten Gefahr« zu unterschätzen.
Nicht-sektiererische Politik durch »Offensive des Zuhörens«
Wenn die eigene Klientel nicht betroffen ist und kulturelle Fragen im Vordergrund stehen, dann reicht es aus, wie bislang sich mit dem reaktionären, antizivilisatorischen bis rassistischen Gehalt des Rechtsextremismus zu befassen und nur heute ihn noch schärfer herauszustellen, ansonsten diesen Teil der Wählerschaft auszugrenzen und als verloren anzusehen. Dann gibt es auch keinen Anlass, die eigenen Konzepte zu hinterfragen. Dann ist es auch eher nachrangig, dass die Linkspartei bei den Stimmenverlusten am stärksten vom Erdrutschsieg der AfD betroffen ist. Sie verlor an die AfD bei den drei Landtagswahlen zusammen 62.000 von 92.000 Stimmen, also mehr als zwei Drittel.
In Halle ist DIE LINKE im Wahlkreis 35 im Problemviertel Südliche Neustadt gegenüber 2011 um 10,7 Prozentpunkte auf 20,8 Prozent eingebrochen, während die AfD aus dem Stand 26,3 Prozent holte. Bernd Riexinger ist zu Recht darüber besorgt, dass im März in Baden-Württemberg die Mehrheit der ArbeiterInnen und Arbeitslosen und in Sachsen-Anhalt 24 Prozent der Gewerkschaftsmitglieder die AfD gewählt haben.
Es ist nicht nur wichtig, bei der AfD zwischen Partei und Wählerschaft zu differenzieren sowie sich mit der sozialen Herkunft Letzterer zu befassen. Auch deren widersprüchliches Bewusstsein muss in Rechnung gestellt werden. »Die Wähler, die von der Linken zur AfD wechseln, sind weder eingefleischte Rassisten noch ziellose Protestwähler…. Die ethnisierenden und ausgrenzenden Logiken (sind) mit berechtigten sozialen Forderungen und Gemeinschaftsvorstellungen verbunden. Oder um es mit Gramsci zu formulieren: Im Alltagsverstand finden sich ‚Elemente des Höhlenmenschen und Prinzipien der modernsten und fortgeschrittensten Wissenschaft, Vorurteile aller vergangenen, lokal bornierten geschichtlichen Phasen und Intuitionen einer künftigen Philosophie‘.«
Je nach Ausprägung dominieren in der AfD-Wählerschaft Ausgrenzung von Minderheiten und Protest gegen die unsoziale Politik der Bundesregierung. Die Menschen sehen auch, dass (zu Recht) plötzlich viel Geld für Flüchtlinge da ist, ihre Forderung aber abgelehnt wird, die Begleichung überhöhter Mieten aus dem Hartz-IV-Regelsatz zu beenden. Sie richten dann ihren Protest vielleicht auch gegen Flüchtlinge, aber vorrangig gegen die Hartz-IV-Politik der Bundesregierung. »Wenn die Menschen nur die Erfahrung machen, dass der zu verteilende ‚Kuchen‘ gleich bleibt, werden Konkurrenz und Entsolidarisierung gefördert, werden Verteilungskämpfe über Spaltungen und Rassismus ausgetragen.« (Kipping/Riexinger, ebd.)
So falsch es ist, Flüchtlinge für die gestiegene Kriminalität in Haftung zu nehmen, so sehr hat angesichts des Staatsversagens die Kritik über fehlende öffentliche Sicherheit (NSU, Personalnotstand der Polizei) eine reale Basis. So verheerend die Ausgrenzung des Islam ist, so notwendig ist es, bei der notwendigen Kritik zwischen Islamismus und dem Islam sowie zwischen Letzterem und dem reaktionären, antidemokratischen und Frauen aus dem öffentlichen Leben ausgrenzenden Charakter politischer Regime zu unterscheiden, die auf dem Islam gegründet sind.
So richtig es ist, den anti-demokratischen Gehalt in der Kritik des existierenden Parteiensystems nicht zu übersehen, so sehr muss berücksichtigt werden, dass angesichts von Inkompetenz, Selbstbedienung, Korruption und Verselbständigung der etablierten Parteien der Aufstand gegen »die da oben« ebenso einen berechtigten Kern hat wie die Kritik an der Entwicklung der EU - bei aller Zurückweisung der Forderung nach deren Auflösung. Diese wenigen Beispiele sollen verdeutlichen, was unter der von Kipping/Riexinger geforderten »Offensive des Zuhörens« (ebd.) und dem »Zuhören, was die Alltagsprobleme der Menschen … heute sind« (Schindler/Schulze), konkret verstanden werden kann. Diese Offensive ist notwendig, um die nicht-sektiererische Orientierung linker Politik nach Außen und Innen deutlicher zu machen.
Horst Arenz ist seit 2005 Mitarbeiter der Linksfraktion im Bundestag, zurzeit ehrenamtlich bei Axel Troost, und Mitglied der Sozialistischen Studiengruppen. Werner Dreibus ist Mitbegründer der WASG. Er war von 2005-2013 Mitglied der Linksfraktion im Deutschen Bundestag und ihr Gewerkschaftspolitischer Sprecher und von 2010 - 2012 einer der beiden Bundesgeschäftsführer der Partei DIE LINKE.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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