Relative Armut ist schlimm genug
Der LINKEN-Politiker Matthias W. Birkwald über eine Armutskonferenz im Rheinland
Am heutigen Freitag Abend findet in der Kölner Lutherkirche die Konferenz »Armut im Rheinland« statt. Auch in reichen Großstädten wie Köln und Düsseldorf seien zehntausende Menschen von sozialer Teilhabe ausgeschlossen, sagt Matthias W. Birkwald. Der 54-Jährige ist Bundestagsabgeordneter aus Köln und rentenpolitischer Sprecher der Linksfraktion. Mit ihm sprach für das »nd« Marcus Meier.
Denkt man an Armut in Nordrhein-Westfalen, dann denkt man an verkommene Ruhrgebietsstädte, aber nicht an das bei Investoren höchst beliebte Düsseldorf oder an die Partymetropole Köln. Warum veranstaltet die LINKE eine Armutskonferenz im Rheinland?
Genau das ist der Grund: Bei Armut denken die Menschen an das Ruhrgebiet oder an Berlin, nicht an Düsseldorf, Köln oder Bonn. Doch die Zahlen sprechen eine andere Sprache: Im Ruhrgebiet oder in Berlin liegt die Armutsquote bei 20 Prozent, in Köln bei 20,5 Prozent, in Aachen knapp darunter. In Gesichter umgerechnet: In Köln sind 215.000 Menschen von Armut betroffen. Auch im Rheinland gibt es also Armut, und wir wollen Vorschläge machen, wie sie bekämpft werden kann.
Matthias W. Birkwald (54) ist Bundestagsabgeordneter der LINKEN aus Köln und rentenpolitischer Sprecher der Fraktion.
Die beiden Städte Köln und Düsseldorf sind heiß begehrt, die Mieten sind entsprechend hoch. Könnten nicht viele ihr Armutsrisiko senken, indem sie ins preiswertere Umland ziehen?
In Deutschland gibt es ein Recht auf Freizügigkeit. Die Menschen sollten nicht den Jobs oder den billigen Wohnungen hinterherziehen, wir müssen Strukturen schaffen, in denen die Menschen von ihrer Hände und Hirne Arbeit leben können. Nicht nur reiche Menschen sollen sich eine Wohnung in den Innenstädten leisten können.
Der Deutsche Paritätische Wohlfahrtsverband definiert als Risikogruppen: Erwerbslose, Alleinerziehende, Ausländer und Menschen mit Migrationshintergrund, gering Qualifizierte und kinderreiche Familien. Eine einzige Anti-Armuts-Strategie für alle kann es da nicht geben. Oder?
Wir brauchen tatsächlich verschiedene Strategien. Welche konkret, das werden wir am Freitag besprechen – mit Akteurinnen und Akteuren aus Caritas, den Gewerkschaften und der Wissenschaft, unter anderem mit Professor Christoph Butterwegge und dem Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes, Ulrich Schneider. Und mit Gregor Gysi. Wie können wir die Armutsgefährdungen absenken oder ganz zum Verschwinden bringen? Das ist unsere Frage.
Das autochthon deutsche Ehepaar mit guter Ausbildung, Job und moderater Kinderzahl ist kaum von Armut betroffen. Sollten wir also zu traditionellen CDU-Werten zurückkehren, um Armut zu bekämpfen?
Nein, Artikel eins Grundgesetz besagt, dass die Würde des Menschen unantastbar ist, nicht die Würde des Deutschen oder die Würde des Arbeitenden, sondern unser aller Würde. Und das ist auch möglich. Wir brauchen eine gute Lohnpolitik, wir brauchen höhere Mindestlöhne, eine bessere Sozialpolitik, eine solidarische Mindestrente statt Grundsicherung im Alter und generell ein höheres Rentenniveau. Und davon sollen alle profitieren – Einheimische wie Zuwanderer.
Oft wird argumentiert, in Deutschland gebe es nur relative Armut. Einige Menschen seien halt weniger wohlhabend als der Durchschnitt, aber nicht von wirklicher Not betroffen.
Der Begriff der relativen Armut wird in ganz Europa verwendet und liegt auch dem Armutsbericht der Bundesregierung zu Grunde. Und das ist auch richtig, denn es geht um gesellschaftliche Teilhabe. Reichtum bemessen wir ja heute auch nicht mehr daran, ob jemand eine Kutsche besitzt.
Steigt mit dem gesellschaftlichen Reichtum nicht auch die Armutsgrenze immer weiter nach oben, die ja bei 60 Prozent des mittleren Einkommens liegt, und werden nicht auch die Armen in dieser Logik immer reicher?
Ja und nein, denn mit dem Reichtum steigen die Preise, die Mieten vor allem. Es ist so: Es gibt auch bei uns absolute Armut, zum Beispiel Obdachlose, die nicht mehr besitzen als das, was sie am Körper tragen. Es leben in Deutschland aber vor allem Millionen Menschen, die Angst haben, dass ihre Waschmaschine oder ihre Kühlschrank kaputt gehen, weil sie sich kein neues Gerät leisten könnten. Armut fängt auch da an, wenn nach dem Abend im Sportverein einige ein Bier trinken, während die anderen nach Hause gehen, einfach weil das Geld nicht langt. In manchen Familien werden Kinder vor dem Schulausflug krank gemeldet, denn es fehlt das Geld für die Eigenbeteiligung. Längst sehen wir auf der Straße Menschen mit Zahnlücken, weil der Zahnersatz zu teuer ist. All das ist relative Armut – »nur« relative Armut. Und dagegen müssen wir etwas tun!
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