Und immer wieder: Bewährung
Hat die Thüringer Justiz bei Neonazis zu lange weggesehen?
Die Stimmung ist gut. Erst kichern viele der fünfzehn Angeklagten im Gerichtssaal, weil ein Vertreter der Jugendgerichtshilfe über den jüngsten mutmaßlichen Angreifer von Ballstädt sagt, er sei öfter mit seiner Mutter einkaufen gegangen. Er wohne noch bei seinen Eltern, sei immer gutmütig und hilfsbereit. Dann wird gefeixt, weil die Vorstrafenregister der Angeklagten verlesen werden. Selbst die Nebenklage-Anwälte kennen diese Dokumente bis zu diesem Zeitpunkt nicht. Sie allerdings finden die vielen Details überhaupt nicht komisch, die so an diesem Mittwoch im großen Saal des Landgerichts Erfurt nun öffentlich werden. Details, die unweigerlich zur Frage führen, ob die Thüringer Justiz - und vor allem im Süden des Landes - in den vergangenen Jahren vielleicht viel zu lasch mit echten beziehungsweise mutmaßlichen Straftätern aus dem rechten Spektrum umgegangen ist.
Viele der Angeklagten dagegen finden es offenbar ziemlich erheiternd, was im Bundeszentralregister über einen nicht kleinen Teil der großen Gruppe - vierzehn Männer und eine Frau - gespeichert ist. Als der Vorsitzende Richter der Strafkammer aus dem Eintrag von einem Angeklagten vorliest, dieser habe dort acht Einträge angesammelt, drehen sich mehrere der Männer zum Vorbestraften, nickten, grinsen. Unter anderem wegen Sachbeschädigung ist er schon aufgefallen, wegen gefährlicher Körperverletzung, wegen des Besitzes einer verbotenen Waffe, wegen Trunkenheit im Verkehr, wegen Beleidigung und wegen einer weiteren Körperverletzung. Ein paar Augenblicke später feixen einige der Angeklagten noch viel, viel mehr.
Allen, die hier auf der Anklagebank sitzen, wirft die Staatsanwaltschaft Erfurt vor, im Februar 2014 am Überfall auf eine private Kirmesfeier in Ballstädt im Landkreis Gotha beteiligt gewesen zu sein. Mehrere Menschen waren damals teilweise schwer verletzt worden. Die Angeklagten stammen aus allen Winkeln Thüringens, auffallend viele aber aus dem Raum Sonneberg. Und sie alle gelten als Anhänger der rechten Szene, die meisten von ihnen versuchen das nicht mal zu kaschieren. Neben ihren Tattoos tragen viele Angeklagte seit dem ersten Verhandlungstag in diesem Prozess szenetypische Kleidung. Wenn man so will, sitzt ein Teil des inneren Zirkels der Thüringer Neonazi-Szene im Ballstädt-Prozess auf der Anklagebank.
Dass es nach dem Verlesen der acht Punkte aus dem Bundeszentralregisterauszug des einen Angeklagten im Gerichtssaal schnell noch heiterer wird, hat damit zu tun, dass klar wird: Einige der Männer hier haben noch weit mehr Einträge im Vorstrafenregister, viel mehr. Einer der Männer bringt es auf 16 Einträge, einer der Sonneberger auf 23 und ein anderer sogar auf 24. Es sind im Kern immer wieder die gleichen Delikte, mit denen alle staatsbekannt geworden sind: Verwendung von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen, Körperverletzungen, Verstöße gegen das Waffen- oder Sprengstoffrecht, Alkohol im Straßenverkehr. Bei denen mit den zahlreicheren Einträgen kommen dann auch schon mal Raub, Diebstahl oder Nötigung dazu.
Was - jenseits der Angeklagten - für die Verwunderung im Raum sorgt, ist dabei aber nicht mal so sehr die Masse der Straftaten, die viele von denen begangen haben, die da auf der Anklagebank sitzen. Sondern die Art der Strafen, zu denen sie deshalb in der Vergangenheit von deutschen Gerichten verurteilt worden sind. Erstmals wird - quasi als Nebenlinie des Verfahrens - nun nämlich öffentlich, wie die Justiz bisher oft mit denen umgegangen ist, die eben zum Kern der rechten Szene in diesem Land gehören. In Kurzform: offenbar ziemlich milde.
Vor allem zwei Worte nämlich ziehen sich - besonders bei vergangenen Verurteilungen der Betroffenen durch Gerichte in Suhl, Sonneberg, Hildburghausen oder Coburg - durch die Bundeszentralregisterauszüge. Das eine Wort lautet: Geldstrafe. Das andere Wort lautet: Bewährung. Ausweislich dessen, was vor Gericht vorgelesen wird, ist beispielsweise der Sonneberger mit den 23 Eintragungen in seinem Leben schon mehrfach wegen Körperverletzungsdelikten verurteilt worden - immer zur Bewährung. Offenbar ohne dass ein Richter oder eine Richterin mal auf die Idee gekommen wären, dass ob dieser langen Vorstrafenliste Bewährungen wohl nicht das richtige Mittel sind, um diesen Mann wieder zu einem rechtschaffenden Bürger zu machen.
Den Nebenklage-Anwälten ist am Ende des Verhandlungstages deshalb überhaupt nicht zum Lachen zu Mute. »Aus Sicht der Nebenklage ist es schon beachtlich, dass ein Teil der Angeklagten mit einer erheblichen Anzahl einschlägiger Vorstrafen in das Verfahren gegangen ist«, sagt Maik Elster, der ein Opfer des Angriffs von Ballstädt in dem Prozess vertritt. »Noch mehr verwundert es uns, dass einige der Angeklagten derzeit überhaupt auf freiem Fuß sind und Bewährungszeiten immer weiter verlängert worden sind, obwohl weitere Straftaten hinzugekommen waren.« Aus dem Juristen-Deutsch übersetzt heißt das: Eigentlich müssten mehrere der Angeklagten aus Sicht der Nebenklage schon wegen von ihnen in der Vergangenheit begangener Straftaten derzeit im Gefängnis sitzen, statt noch immer frei herum zu laufen. Nun jedenfalls wolle die Nebenklage auch Einsicht in die Akten aus anderen Strafsachen der Angeklagten haben, sagt Elster.
Die große Frage, zu der dieser Verhandlungstag damit führt, will Christina Büttner allerdings trotzdem nicht pauschal beantworten. Ist die Thüringer Justiz in den vergangenen Jahren viel zu lasch mit echten beziehungsweise mutmaßlichen Straftätern aus dem rechten Spektrum umgegangen? Die Projektkoordinatorin der Opferschutz-Organisation ezra sagt, da dürfe man nicht zu stark verallgemeinern. »Aber es gibt doch schon sehr viele Beispiel aus Gerichtsverfahren aus den vergangenen Jahren, wo sich die Betroffenen und ihr Umfeld schon wundern, wie gering die Strafen für rechte Gewalttäter ausgefallen sind«, sagt Büttner. Besonders unverständlich seien solche Urteile für die Opfer von rechten Übergriffen dann, wenn in der Urteilsbegründung auch noch kein Bezug zu den rechtsextremen Motiven der Täter hergestellt werde. »Das ist manchmal noch verstörender für sie als ein mildes Urteil an sich.« Weil es für die Opfer der Übergriffe so aussehe, als erkenne die Justiz - stellvertretend für die Gesellschaft - ihr Leiden nicht an. Und auch wenn es im Nachgang der NSU-Enthüllungen »etwas besser« geworden sei: Dass die rechtsextremen Motive einer Tat durch die Gerichte bei der Urteilsfindung »ausgeblendet« würden, »das geschieht leider sehr häufig«, sagt Büttner. Ezra versteht sich ausdrücklich als Hilfsangebot nach rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt.
Statistisch gesehen freilich ist es nicht völlig überraschend, dass mehrere der Angeklagten im Ballstädt-Prozess so viele Vorstrafen haben. Denn nicht nur die kriminalistische Forschung, auch die Daten des Landesamtes für Statistik sind in einer Kernaussage eindeutig: Wer einmal in Konflikt mit dem Gesetz gekommen ist, hat eine hohe Wahrscheinlichkeit, auch ein zweites Mal in Konflikt mit dem Gesetz zu kommen. Nach aktuellen Zahlen der Thüringer Statistiker waren etwa 57 Prozent aller insgesamt 20 042 Männer und Frauen, die 2015 von einem Thüringer Gericht zu einer Strafe verurteilt worden sind, zuvor schon einmal von der Justiz bestraft worden. Etwa 41 Prozent aller Vorverurteilten hatten sogar bereits fünfmal oder häufiger Strafen zu verbüßen gehabt. Aus dieser Perspektive betrachtet, sind mehrere der Angeklagten im Ballstädt-Verfahren also ziemlich gewöhnliche Angeklagte.
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