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Atomreaktor: Offenbar Radioaktivität absichtlich freigesetzt

Opposition wittert kriminellen Skandal / In Hamm-Uentrop wurde 1986 radioaktives Gas »von Hand abgelassen«, behauptet ein Ex-Mitarbeiter

  • Marcus Meier
  • Lesedauer: 3 Min.
Schwerer Vorwurf eines pensionierten Ingenieurs: Im Thorium-Hoch-Temperatur-Reaktor in Hamm-Uentrop soll 1986 radioaktives Helium ausgeblasen worden sein – ohne Rücksicht auf die Bevölkerung und in der Hoffnung, niemand werde es merken. LINKE und Piraten fordern Aufklärung.

Die Gerüchte kursieren seit Tagen und versetzen Atomkraftgegner in Aufruhr, nun ist es gleichsam offiziell: Im Thorium-Hoch-Temperatur-Reaktor in Hamm-Uentrop (Westfalen) setzten Ingenieure im Mai 1986 bewusst Radioaktivität frei. Sie hofften offenbar, es werde nicht auffallen, da wegen der parallel stattfindenden Reaktorkatastrophe in Tschernobyl die Radioaktivitätswerte in Europa massiv erhöht waren. Das berichtete ein ehemaliger THTR-Mitarbeiter gegenüber lokalen Medien.

Es habe seinerzeit Probleme mit der von ihren Befürwortern als »inhärent sicher« angepriesenen Kernkraftwerksanlage gegeben, so Hermann Schollmeyer, ein ehemals im THTR tätiger Ingenieur. Sie bezogen sich auf den Transport radioaktiver Elemente. Die Kugeln hätten sich in Leitungen verklemmt, so Schollmeyer. »Irgendein Schlaumeier ist dann auf die Idee gekommen, dass wir die Leitungen mit Helium freiblasen sollen. Wegen der Tschernobyl-Wolke würde das doch eh niemand merken«, lässt der 83-Jährige sich in einer Lokalzeitung zitieren. »Das war Absicht«, ergänzte der promovierte Ingenieur, der betont, er sehe der THTR-Technik immer noch sehr positiv. Dabei hätte der Leiter des AKW, ein gewisser Dr. Daoud, einfach nur auf die Lieferung bereits bestellter Filteranlagen warten müssen. Dr. Daouds habe eigenmächtig und gegen Warnungen gehandelt, so Schollmeyer.

Kontrolleure finden in Atommüllfass verbotenen Inhalt

Leese. Kontrolleure haben in einem leicht beschädigten Fass mit Atommüll aus dem Jahr 1981 im niedersächsischen Zwischenlager Lesse verbotene Inhalte entdeckt.

»Die aus dem medizinischen Bereich stammenden Abfälle wurden als »Papier, Zellstoff etc.« ausgewiesen. Tatsächlich wurden jedoch neben Beton, Holz- und Stoffresten mehrere Blech- und Plastikbehälter gefunden, die auch Flüssigkeiten enthielten«, sagte Niedersachsens Umweltminister Stefan Wenzel (Grüne) am Freitag. Der Vorgang zeige, wie in früheren Zeiten »nachlässig, fahrlässig oder gar vorsätzlich bedenkenlos mit radioaktiv belastetem Material umgegangen wurde«, so der Minister.

Wenzel will nun für mehr Klarheit sorgen. Kurzfristig würden die Inspektionen im Lager erweitert und die Umsetzung eines Hallenneubaus beschleunigt. Mittelfristig müssten die Fässer in einen endlagergerechten Zustand versetzt werden. Dazu gehörten die Aufarbeitung aller vorliegenden Dokumentationen, Nachprüfungen von Inhalten und gegebenenfalls die Umverpackung in andere Behältnisse. Agenturen/nd

»Der radioaktiv verseuchte Kugelbruch wurde also doch absichtlich in die Umgebung ausgeblasen und damit die Bevölkerung einer großen Gefahr ausgesetzt«, ärgert sich Horst Blume von der Bürgerinitiative Umweltschutz Hamm. Das Dr. Daoud vorgeworfene Handeln hat aus Sicht des Umweltschützers strafrechtliche Relevanz, während sich die Aufsichts-Behörden der Strafvereitelung schuldig gemacht hätten.

Sowohl den Bundes- wie den nordrhein-westfälischen Landtag werden die Vorwürfe beschäftigen. »Sollten die Angaben von Dr. Schollmeyer stimmen, ist das ein skandalöser und wohl auch krimineller Vorgang«, so Hubertus Zdebel, atompolitischer Sprecher der Linksfraktion im Bundestag. Er werde umgehend die Bundesregierung befragen, welche Kenntnisse sie über die damaligen Vorgänge habe und wie sie diese möglicherweise nachträglich aufzuklären gedenke.

Auch die Piratenfraktion im Landtag vermutet »ein rechtswidriges, vorsätzliches Ausblasen radioaktiver Stoffe« und stellte eine Berichtsanfrage an die rot-grüne Landesregierung. Die Piraten wollen wissen, seit wann die Behörden Bescheid wussten.

Die Menge der freigesetzten Radioaktivität lässt sich nicht mehr rekonstruieren. Wegen der Tschernobyl-Havarie waren die Radioaktivitätswerte auch in Hamm stark erhöht und Messgeräte im THTR fielen entweder aus oder wurden, das hält der THTR-Experte Dr. Rainer Moormann gegenüber »nd« für denkbar, möglicherweise manipuliert.

Die Betreiber, ein Konsortium lokaler Energieversorger, hatten 1986 gegenüber Politik und Öffentlichkeit zunächst offensiv abgestritten, dass es zu einem Zwischenfall gekommen war, dann aber eine angeblichen Steuerungsfehler eingeräumt. In der Umgebung des THTR besteht für Frauen ein um 64 Prozent erhöhtes Risiko an Schilddrüsenkrebs zu erkranken. Das grüne geführte Landesumweltministerium NRW bestreitet einen Zusammenhang mit dem THTR, viele Anwohner vermuten jedoch einen solchen. Der THTR wurde 1988 still gelegt.

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