Die große Abschiedstour beginnt
Frank Castorf inszenierte »Die Kabale der Scheinheiligen. Das Leben des Herrn Molière« an der Volksbühne
Am Anfang ist die Dunkelheit. Sie dauert eine gefühlte Unendlichkeit, also auf der Bühne gute zehn Minuten. Zehn von noch folgenden 330 Minuten - das sind immerhin fünfeinhalb Stunden auf allzu weich federnden Plastestühlen, die einige Zuschauer bereits beim Hinsetzen erste Rückenschmerzlaute ausstoßen lassen. Und das ist nur der Anfang. Wovon? Folter? Nein, langsam dämmert es, und es wird heller: Vernunft. Auch sie ist ohne Leidenspreis nicht zu haben.
Das weiß man, wenn man öfter zu Frank Castorf in die Volksbühne geht. Aber nicht mehr lange, noch ein Jahr genau, dann ist Schluss mit diesen irrsinnig überdehnten Theaterabenden, dann ist Castorf endlich weg, und hier gibt es wohl wie - fast - überall Theater von der Stange, neunzig Minuten irgendwas, das es auch anderswo gibt. Unter der Länge einer der längeren Wagner-Opern jedoch macht es Castorf auf seiner Abschiedstour durch unser fades Nibelheim nicht. »Kaputt« nach Malaparte, Dostojewskis »Brüder Karamasow«, Hebbels »Judith«, allesamt Versuche des langen Atems, die Welt aus den Angeln zu heben. Falsch, die Welt, die aus den Angeln gehoben ist, als solche zu zeigen.
Die Bühne baute Aleksandar Denic, einst Filmausstatter bei Emir Kusturica (»Underground«). Er schuf auch das Bühnenbild für Castorfs Bayreuther »Ring des Nibelungen« mit Öl-Bohrtürmen und Tankstellen. Ein historisierender Abglanz dieses Roadmovies vom Unheilsweg des schwarzen Goldes, für den kein Krieg zu teuer ist, steht nun hier herum. Die Volksbühne als Parkplatz für die Theaterkarren des 17. Jahrhunderts. Passt gut, denn in einem Jahr sind sie hier alle Wanderschauspieler ohne festes Haus.
Auch Sophie Rois, deren Stimme bereits das Dunkel durchdrang: Nun steht sie vor uns als Schriftsteller Michail Bulgakow, der mitten im Stalinschen Terror in »Der Meister und Margarita« über den Teufel schrieb und auch über Molière, der am Hofe Ludwig XIV. Glanz und Elend des Absolutismus erfuhr. Ist Tartuffe ein Teufel nach dem Geschmack Bulgakows?
Gewiss langweilt sich Frank Castorf in all den Scheindebatten unserer auf Konsens getrimmten Parteiendemokratie. Diese schreckliche intellektuelle Ödnis in der Politik, mit der Angela Merkel den FDJ-Referatsstil - von weiten Teil der westlichen Öffentlichkeit unbemerkt - an die Regierungsspitze stellte! Wen wundert es, dass die Straße im Osten darauf mit dumpfen Affekt reagiert; sie bemerkt Ähnlichkeiten, kann aber dieses Bemerken wieder nur selbst in Form von Ressentiments anbringen.
Castorfs Theater ist von solcher Art billigem Affekt der Katalysator und das Gegengift zugleich. Also muss man die Krisis gleichsam ungekürzt durchleben, um dann, eine Winzigkeit weniger krank, viele Stunden später, das Theater zu verlassen. Darum geht es in »Die Kabale der Scheinheiligen. Das Leben des Herrn Molière.« Und wieder kommt er uns über den russischen Weg entgegen! Denn als es endlich Licht wird, ist Stalin am Telefon. Bulgakow unternimmt es, ihn untertänig zu bitten, ihm irgend eine Rolle in seinem Spiel zu geben, egal welche, oder ist das schon Ludwig XIV., an dessen Sonne sich Molière verbrennt? Denn Castorf spiegelt die Zeiten ineinander: Künstler sind ihm das Korn, das in den Mühlen der Macht gemahlen wird.
Wer immer in Castorfs Volksbühne kommt, der weiß um die blutsaufende Geschichte, die bei gutem Wein höchstens mal Pause macht. Aber auf Castorfs unablässiger geschichtlicher Tiefenbohrung, die bis ins Reich der Groteske, der Heiligenlegende, der Lästerung, des Narrenstücks und der Parodie vordringt, liegt längst die melancholische Patina des Abschieds - nicht nur seines persönlichen von der Volksbühne, die er fünfundzwanzig Jahre leitete, auch einer Epoche der Geschichte.
Frank Castorf stellt sich der Geschichte auch da, wo sie mit Chaos droht, wo sie lästig und nervig ist. Bloß jetzt nicht lügen, so tun, als hätten wir alles im Griff! Gebt der Anarchie eine Form - und sie hat die Chance, eine neue Ordnung zu werden, die nicht zwangsläufig schlechter sein muss als die alte. Das ist die Botschaft von Castorf auch an diesem Abend - und dass man sie im SPD-geführten Kulturressort der Stadt für entbehrlich hält, ist die niederschmetternde Wahrheit über diese Art von Politik, die nur managt, aber nicht gestaltet.
Auch Rüdiger Schaper will im »Tagesspiegel« angesichts dieses brachialen Spiels wieder nur vom »Zerschreddern« von Stücken sprechen. Bei Castorf werden die Anwälte westlicher Moderne unweigerlich zu Hütern der Werktreue. Sie streuen selbst jene Harmlosigkeiten in die Welt, von denen sie glauben, sie bei Castorf in »Die Kabale der Scheinheiligen. Das Leben des Herrn Molière« gesehen zu haben: »Er hat kein Problem. Nur das, was alle haben - die Zeit vergeht, man wird älter.« Mehr nicht? Der bekennende Castorf-Hasser Gerhard Stadelmaier ist in seinem jüngst erschienenen Büchlein »Regisseurstheater« da um einiges offener. Er schreibt, diese Verfallsform des Castorf-Theaters sei »eine Folge der deutschen Einheit, also ein Erbe der DDR.« Der auf Spaß und dumme Einfälle programmierte Castorf habe die Höhen bildungsbürgerlichen Theaters, vor allem das des »großen Peter Zadek«, geschleift. Ja, mit Castorf brachen tatsächlich die kaukasischen Horden in die müden Kunsttempel des Westens ein.
Das muss einem nicht gefallen, wie Geschichte überhaupt nicht dazu da ist zu gefallen. Aber Frank Castorf zu einem Prototyp des DDR-Theaters zu machen, ist schon über die Maßen unverschämt. Denn wenn Castorf eines bewiesen hat, dann doch wohl, dass er - im Anklamer Abseits - das DDR-Theater derart auf seine absurde Spitze zu treiben vermochte, dass es zum Anti-DDR-Theater wurde.
Zurück zum langen Castorf-Abend, der wie alle seine Arbeiten der letzten Jahre von einer fast Scheu zu nennenden Hochachtung vor dem geschriebenen Wort bestimmt scheint. Natürlich collagiert er, er ist umtriebig im Reich der verblichenen Idole und ein Allesfresser sowieso - von Racine, Corneille, Fassbinder bis zu Heiner Müller. Am Ende ist alles nur ein Film, der unter Zeitdruck und Geldmangel eilig gedreht wird und natürlich nie fertig wird. Auch dieser Castorf-Abend wirkt zum Ende hin unfertiger als am Anfang, was aber nicht verschämt überspielt, sondern als Ratlosigkeit offen zelebriert wird.
Welch Marathon wiederum für die an ihrer dauernden Überforderung gewachsenen Volksbühnenschauspieler! Aber wie das im ungerechten Leben so ist, der eine wächst schneller als der andere. Castorf jedoch scheint sich um ein derartiges Gefälle im Ensemble nicht zu kümmern, vielleicht tut er gut daran. Denn wer sich programmgemäß überanstrengen soll, dem darf man eines nicht rauben: die Lust am Spiel. Trotzdem gibt es zwei, die alle übertreffen: Sophie Rois als Bulgakow und Alexander Scheer als Molière. Die Rois: präzise mit überfallartigen Tempowechseln im Spiel und einer phänomenalen Fähigkeit, Misstrauen ins selbst Gesagte zu senken wie den Köder in einen Teich voll von gewohnheitsmäßig fressenden Karpfen. Den Haken bemerken sie zu spät. Alexander Scheer, der böse Junge als Ekstatiker, ist zur formidablen Bühnenpersönlichkeit gereift: immer für einen Staatsstreich gut, der die Bühnenwelt ins Wanken bringt - wie in seiner brillant platzierten Abschweifung, die ins Herz der Castorf- ebenso wie der Molière-Bühne trifft: »Und dann scheiterte Franks Theater an der Tragödie - und das nach nur fünfundzwanzig Jahren.«
Lars Rudolph als Erzbischof von Paris will man ob seines Spiels ohne Worte nicht aus den Augen lassen. Eindringlich in seiner nöligen Überflüssigkeit: Georg Friedrich als König Ludwig. Wie der Puderdose entsprungen, so unschuldig-dekadent geriert er sich in seinem Machtwahn. Sir Henry ist wie immer, nicht nur am Klavier, ein Denkmal seiner selbst, wenn auch ein mit Eleganz bröckelndes. Nur bei der megärenhaften Jeanne Balibar als Madeleine Béjart möchte man inmitten ihrer pompös-ausufernden und zudem unverständlichen Monologe ab und zu den Ausknopf drücken, den diese mit erstaunlicher Kondition gesegnete Schauspielerin jedoch nicht besitzt.
Ein Abend wie von de Sica und Dostojewski in Co-Produktion entworfen - mit einem Anhauch von LSD-Trip. Die große Castorf-Abschiedstour an der Volksbühne hat begonnen. Maßlos-strapaziös, aber auch grausam-schön.
Nächste Aufführungen am 4., 10. und 11. Juni
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.