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Die Revolutionsgeborene
Bernd Gehrke über den Verfassungsentwurf des Zentralen Runden Tisches der DDR und dessen Vorzüge gegenüber dem Grundgesetz
Herr Gehrke, Sie waren Mitglied der Arbeitsgruppe Verfassung des Zentralen Runden Tisches, der am 7. Dezember 1989 zusammengetreten ist, um die Krise in der DDR zu überwinden und Initiativen für eine demokratische DDR anzustoßen. Wie kamen Sie zu der Ehre, als gelernter Elektromonteur und studierter Ökonom, also ohne juristische Kenntnisse?
Ich war am Runden Tisch Vertreter der Vereinigten Linken …
… die sich parallel zum Neuen Forum am 10. September 1989 an die Öffentlichkeit gewandt hatte und neben anderen Bürgerbewegungen wie Demokratie Jetzt und neuen Parteien wie der SDP/SPD, die sich im Wendeherbst 1989 in der DDR gegründet hatten, am Zentralen Runden Tisch saß.
Weil wir der Ansicht waren, dass sich in der DDR schnellstens etwas grundlegend ändern muss. Und damit dies gelingt, müssten sich die Linken verbünden. Wir wussten, dass das, was in der DDR als Sozialismus praktiziert wurde, für die Massen nicht attraktiv war. Für uns war das kein Sozialismus. Wir wollten einen sozialistischen Neuanfang, einen, der nicht sektiererisch und nicht orthodox ist.
Wer waren »wir«? Mitglieder ihrer einstigen konspirativen Gruppe der 70er Jahre in der DDR?
Nein. Unsere kleine oppositionell-kommunistische Untergrundgruppe ist 1977 von der Staatsicherheit enttarnt worden. Im Laufe der Jahre ist jeder seinen eigenen Weg gegangen. Mit den personellen Überbleibseln anderer aufgeflogener linker Gruppen und besonders mit Thomas Klein hatte ich seit dieser Zeit weiterhin engen politischen Kontakt. Mit ihm und anderen, neuen Gleichgesinnten, Trotzkisten, Autonomen, Anhängern des jugoslawischen Selbstverwaltungssozialismus sowie christlichen Sozialisten, eine Handvoll Leuten aus unterschiedlichen Gruppen und Regionen, aus Leipzig, Aschersleben und aus Berlin, haben wir die Initiative für eine Vereinigte Linke ins Leben gerufen.
Startschuss war die »Böhlener Plattform« vom 4. September 1989. Wieso trafen Sie sich in Böhlen?
Wir haben uns nicht dort getroffen, sondern in einem kleinen Dorf bei Bautzen.
Die Ortsangabe ihres Aufrufs für eine Vereinigte Linke diente also nur zur Irreführung der Staatsmacht? Wie seinerzeit die während der NS-Zeit illegale KPD ihre Brüsseler Konferenz 1935 nicht in der belgischen Hauptstadt, sondern in Kunzewo bei Moskau abhielt und ihre Berner Konferenz 1939 in Draveil bei Paris.
Bernd Gehrke, 1950 in Berlin geboren, hat an der Karl-Marx-Universität Leipzig studiert und war dann am Zentralinstitut für Wirtschaftswissenschaften der Akademie der Wissenschaften der DDR tätig, wurde jedoch 1977 fristlos wegen »staatsfeindlicher Gruppenbildung« entlassen und aus der SED ausgeschlossen. Im Jahr zuvor hatte er eine Solidaritätserklärung mit streikenden Arbeitern in Polen mitinitiiert sowie den Protest gegen die Ausbürgerung von Wolf Biermann aus der DDR unterzeichnet. Gehrke arbeitete hernach als Ökonom im Möbelkombinat Berlin und war 1989 Mitbegründer der Vereinigten Linken sowie einer der Erstunterzeichner des Aufrufs »Für unser Land«. Nach der Wiedervereinigung betätigte er sich im Bündnis kritischer Gewerkschafter*innen Ost/West und als Historiker. Foto: Privat
Wir waren damals in der DDR ja noch illegal, mussten Verfolgung befürchten. Auch rechneten wir mit einer Militärdiktatur wie in Polen. Ich habe in Leipzig, an der Karl-Marx-Universität studiert. Im Studentensommer mussten wir in den Braunkohletagebauen um Leipzig arbeiten, unter anderem in Böhlen. Daher die Fake-Ortsangabe. Wir hatten dann zu Hochzeiten etwa 1500 Mitglieder. Unser Ziel, ein möglichst breites Bündnis der Linken zu schaffen, von der Opposition bis hin zu demokratischen Kräften in der SED, ist allerdings leider gescheitert.
Zurück zum Zentralen Runden Tisch in Berlin und dessen Arbeitsgruppe Verfassung. Warum hat man sich da noch der Mühe unterzogen, eine neue Verfassung für die DDR auszuarbeiten, wo doch schon der Ruf nach der Einheit Deutschlands zu hören war.
Ja. Aber dass die Mehrheit der DDR-Bürger und -Bürgerinnen schon im Dezember ’89 die deutsche Einheit wollte, stimmt nicht, wird nur immer so kolportiert. Im Gegenteil: Eine seriöse Meinungsumfrage, von der westdeutschen Forschungsgruppe Wahlen zusammen mit Soziologen der Akademie der Wissenschaften der DDR im Dezember unternommen und in den letzten »Spiegel«-Heften 1989, Nummer 51 und 52, veröffentlicht, kam zu dem Ergebnis, dass 73 Prozent der DDR-Bürger und -Bürgerinnen für eine selbstständige, gründlich reformierte demokratische DDR waren. Und für ein offenes Zugehen auf die Bundesrepublik, aber nicht um den Preis, von ihr geschluckt zu werden. Die Stimmung änderte sich dann allerdings zwischen Januar und März 1990 rapide.
Wegen der Volkskammerwahlen, in die sich westdeutsche Parteien kräftig einmischten. Und Hans Modrow, damaliger Regierungschef in der DDR, kam nach einem Besuch aus Moskau am 1. Februar 1990 mit der Losung »Deutschland, einig Vaterland« zurück.
Nicht nur das. Da kam vieles zusammen, da spielten auch innerpolitische Machtkämpfe eine Rolle. Modrow boykottierte den Runden Tisch bei der Nachfolgeregelung für die Stasi; er wollte, massiv unterstützt von der SED/PDS, ein Amt für Nationale Sicherheit schaffen. Damit waren wir, die Opposition, nicht einverstanden, denn die Modrow-Regierung war keine demokratisch gewählte Regierung. Grundsatzentscheidungen hätten einer demokratisch gewählten Regierung überlassen werden müssen. Die Straße wurde mobilisiert, es fanden Streiks statt. Und das war dann auch das Ende der ersten Modrow-Regierung. Die zweite folgte sogleich, die »Regierung der Nationalen Verantwortung«, in die wir als Vereinigte Linke nicht eingetreten sind.
Man darf auch nicht vergessen, dass damals jeden Tag eine neue Sau durchs Dorf getrieben und von der Bundespolitik und den Westmedien immer aufs Neue die Pleite der DDR verkündet wurde. Die Generaldirektoren der DDR-Kombinate begannen mit Rationalisierungsmaßnahmen zu drohen und verhandelten bereits mit Unternehmern aus dem Westen, die plötzlich im schwarzen BMW oder Mercedes durch die Tore der DDR-Betriebe fuhren, ohne dass es Interessenvertretungen der Beschäftigten gab. Das waren die Anfänge des wilden Kapitalismus in der DDR. Da kam Panik auf. Die Menschen bekamen auf einmal soziale Angst. Die kannten sie bisher nicht – sie kannten nur die Angst vor der Stasi oder der Partei, aber nicht vor Arbeitslosigkeit oder sogar Obdachlosigkeit. Zum Druck aus dem Westen hinzu kam die fehlende Perspektive im Osten. Auch die Opposition bot keine, gemessen an den unmittelbaren sozialen Bedürfnissen der Bevölkerung.
Der Verfassungsentwurf des Zentralen Runden Tisches hätte diese Perspektive bieten können, ist aber in der Allgemeinheit nicht wahrgenommen worden. Obwohl dieser die demokratischste Verfassung in deutscher Geschichte hätte sein können. Von Vertretern der Zivilgesellschaft maßgeblich erarbeitet. Und der Entwurf sollte auch per Volksabstimmung verabschiedet werden.
Die sollte am 17. Juni 1990 stattfinden. Es stimmt, es wäre die demokratischste Verfassung der deutschen Geschichte gewesen, auch inhaltlich, nicht nur hinsichtlich der Entstehung, hervorgegangen aus einer demokratischen Revolution. Deshalb wird der Verfassungsentwurf des Zentralen Runden Tisches systematisch verschwiegen. Er ist in einer unglaublich kurzen Zeit erarbeitet worden, innerhalb eines Vierteljahres. Wir konnten ihn pünktlich zur Zusammenkunft der ersten demokratisch gewählten Volkskammer am 5. April vorlegen.
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Und dieser Verfassungsentwurf wurde gänzlich ohne westliche Beeinflussung ausgearbeitet? Was ein Unikum in der damaligen Zeit gewesen wäre, weil in allen gesellschaftlichen Bereichen der DDR sich »Westexperten« tummelten.
Weil wir keine Juristen waren, uns in juristischen Formulierungen nicht auskannten, die ja eindeutig sein müssen, um nicht fehlinterpretiert zu werden, haben wir natürlich jeweils zu uns passende juristische Berater herangeholt, auch aus dem Westen, das Neue Forum zum Beispiel Ulrich Preuß. Ich habe für uns, die Vereinigte Linke, Rosemarie Will geworben, von der Humboldt-Universität Berlin, aber sie ist dann zur SED/PDS gewechselt. Nein, die Westexperten haben uns nicht reingeredet, sondern wirklich nützliche Ratschläge gegeben. Sie kamen ja auch aus sozialen Bewegungen oder der SPD. Sie kannten die Finessen der Rechtsdiskussion in der Bundesrepublik für die Durchsetzung emanzipatorischer Rechte. Frauenrechte beispielsweise. Oder bezüglich der Umweltfragen. Oder auch hinsichtlich des Verbandsklagerechts. Man konnte in der Bundesrepublik nur als Einzelperson klagen, und da hatte man es gegen einen mächtigen Konzern schwer. Oder die Auseinandersetzungen, die die Gewerkschaften im Hinblick auf Aussperrungen führten. Es gab also gemeinsame Interessen.
Die Diskrepanz, die relativ schnell in der Arbeitsgruppe auftauchte, bestand nicht zwischen Ost und West, sondern zwischen der basisdemokratischen Bürgerbewegung und den Vertretern des Parteienstaats. Unser größter Kontrahent war einer der beiden Vertreter der Ost-SDP in unserer Arbeitsgruppe, Richard Schröder, der mit Basisdemokratie nichts anfangen konnte, aus der Hegel’schen Schule kam und stramm für staatliche Autorität stand.
Gab es heftigen, ausartenden Streit?
Nee, wir sind sachlich geblieben.
Modrow hatte bereits im November eine bei der Volkskammer angesiedelte Verfassungskommission einberufen. Konkurrenz?
Das war keine richtige Konkurrenz. Die Volkskammer führte politisch ein Schattendasein, wurde aber formal gebraucht, um Gesetze zu erlassen. Die wichtigsten Initiativen sind vom Runden Tisch in die Volkskammer eingebracht worden. Im Detail gab es aber auch Auseinandersetzungen, beispielsweise um ein Gewerkschaftsgesetz. Der FDGB, der Freie Deutsche Gewerkschaftsbund, wollte ein solches, natürlich auf ihn zugeschnitten. Das wollten wir nicht. Wir wollten vor allem nicht, dass der Staat diktiert, was eine Gewerkschaft ist und was nicht, was sie zu tun oder zu lassen hat. Das Gesetz wurde trotzdem von der Volkskammer verabschiedet, blieb aber letztlich ohne Auswirkung. Deshalb war das nicht unser Hauptproblem seit der zweiten Modrow-Regierung.
Sondern?
Das war die immer offenere Einmischung von Kohl und seiner Bande.
Was würden Sie als die Vorzüge des Verfassungsentwurfs des Zentralen Runden Tisches der DDR gegenüber dem Grundgesetz der Bundesrepublik benennen? Schon die von Christa Wolf formulierte Präambel ist vollkommen anders, nicht nur lyrischer, sondern auch ohne Gottesbezug.
Abgesehen vom fehlenden Gottesbezug zeichnet die von Christa Wolf verfasste Präambel aus, dass an die »Verantwortung aller Deutschen für ihre Geschichte und deren Folgen« erinnert und betont wird, dass es sich um eine Verfassung aller Bürger und Bürgerinnen handelt. Also nicht eines nebulösen Volkes. Das brachte den zentralen Gedanken unseres Verfassungsentwurfes prägnant auf den Punkt. Man denke an die riesige Aufregung in der westdeutschen Öffentlichkeit, als Hans Haacke 2000 sein Kunstwerk im Reichstag »Der Bevölkerung« widmete statt »Dem deutschen Volke«.
Und außerdem ist in der Präambel des Grundgesetzes eine Lüge enthalten, heißt es doch dort, es habe sich »das Deutsche Volk kraft seiner verfassungsgebenden Gewalt dieses Grundgesetz gegeben«. Dabei waren es ausgewählte Verfassungsväter und drei Verfassungsmütter, die es 1948/49, fernab vom kriegstraumatisierten deutschen Volk, in der idyllischen Abgeschiedenheit auf Schloss Herrenchiemsee formuliert hatten.
In der Tat. Bei unserem Verfassungsentwurf handelte es sich nicht um eine autoritäre Staatsverfassung »von oben«, sondern um eine Verfassungsgebung »von unten«, gegeben als und für ein solidarisches Gemeinwesen. Das ist der fundamentale Unterschied zur Weimarer Verfassung wie auch zum Grundgesetz, das vom tiefen Misstrauen in die Bevölkerung geprägt ist.
Haben Sie Ihre Verfassung als Alternativentwurf zum Grundgesetz begriffen?
Nein, nicht als Gegenentwurf, sondern als Weiterentwicklung. Und zwar in zwei zentralen Punkten. Erstens, dass die Grundrechte unmittelbare Rechte sind, also von allen einklagbar. Die im Grundgesetz verankerten gelten real, wenn es dazu ein vom Bundestag beschlossenes Gesetz gibt. Es sei denn, man unternimmt eine Verfassungsklage, und das ist sehr aufwendig für einen einzelnen Bürger oder eine Bürgerin. Zweitens die besondere Rolle der Bürgerbewegung, gesellschaftlicher Gruppen und Verbände, Gesetze auf den Weg zu bringen und Informationen vom Staat zu verlangen.
Das Informationsfreiheitsgesetz läuft Gefahr, unter der neuen Bundesregierung demontiert zu werden, wenn es nach dem voraussichtlich neuen Bundeskanzler Friedrich Merz geht, der ja unlängst mit seiner Reaktion auf die Proteste gegen seine Kungelei mit der AfD in Sachen Migration dies befürchten lässt.
Richtig. Außerdem gab es in unserem Entwurf den Volksentscheid. Und wir orientierten auf starkes genossenschaftliches und kommunales Bodeneigentum, wenn es größer als 100 Hektar war. Private Monopole waren untersagt. Viel stärker war auch in unserem Entwurf, vor allem in den ersten Fassungen, der Umweltschutz. Unter dem Einfluss der Beweihräucherung der Marktwirtschaft durch die immer mächtigere Ost-CDU sind manche ökologische Forderungen in der endgültigen Fassung abgeschwächt worden. Auch unsere Verfassung war eben ein Kompromiss, an dem ich etliches zu kritisieren habe. Kodifiziert wurde eine sozial regulierte Marktwirtschaft mit mehr Rechten für einzelne Bürger und soziale Bewegungen, aber auch ein gegenüber dem Grundgesetz verstärkter Schutz der Umwelt. Das ging alles weit über das damalige Grundgesetz hinaus.
Und das Recht auf Arbeit.
Nicht das Recht auf Arbeit, sondern abgeschwächt als Recht auf Arbeit und Arbeitsförderung. Auch die Geschlechtergleichstellung findet sich als vielfach durchdekliniertes Rechtsgut. Also vieles, was den modernen emanzipatorischen Herausforderungen in den 80er Jahren entsprach. In der Summe kann man sagen: Unser Verfassungsentwurf bot eine realistische Gesellschaftsalternative für ganz Deutschland zu dem dann durchgesetzten neoliberalen Kapitalismus. Der Verfassungsentwurf des Runden Tischs antizipierte zwar nicht den von der Vereinigten Linken angestrebten Selbstverwaltungssozialismus, jedoch eine real mögliche rot-grüne, soziale Bürgerrepublik, in der der Umwelt ein starker Schutz zugesprochenen wird und zivilgesellschaftliche ebenso wie plebiszitäre Elemente verankert sind.
Es wird behauptet, dieser Verfassungsentwurf sei utopisch gewesen. Er hat aber keine Utopie anvisiert, auch wenn er sich nicht durchgesetzt hat. Das politische Potenzial dafür war in Ost- wie in Westdeutschland vorhanden. Im Osten war ein Bündnis zwischen SPD und Neuem Forum durchaus so realistisch wie in Westdeutschland eine SPD-Grüne-Regierung auf Bundesebene. Diese politische Alternative wurde nicht durchgesetzt, das war aber Resultat eines politischen Kampfes, nicht des fehlenden Potenzials.
Zu einer Debatte über Ihren Verfassungsentwurf ist es in der Volkskammer nicht gekommen. Bei einer dafür vorgesehenen aktuellen Stunde am 19. April wurde diese abgelehnt.
Mit einer knappen Mehrheit von zwölf Stimmen.
Obwohl von PDS, Bündnis 90/Die Grünen, Neuem Forum, der Vereinigten Linken und SDP unterstützt.
Die Volkskammerwahl vom 18. März 1990 hatte aber die Allianz für Deutschland gewonnen. Die Mehrheitsverhältnisse waren ziemlich klar. Und außerdem standen die Sozialdemokraten nur teilweise hinter unserem Entwurf.
Aber die DDR konnte nicht auf Grundlage der »sozialistischen Verfassung« von 1974 der BRD beitreten, auch wenn die Volkskammer inzwischen den ersten Artikel, »die führende Rolle der SED«, gestrichen hatte?
Deshalb hat sich nach einem neuen Entwurf des Justizministeriums, der Elemente unseres Entwurfes enthielt, dann Lothar de Maizière, der neue und letzte Ministerpräsident der DDR und Jurist, selbst hingesetzt und anscheinend auf Druck von Wolfgang Schäuble rasch Verfassungsthesen formuliert, die dann zur Grundlage einer Rumpfverfassung wurden, auf deren Grundlage der Staatsvertrag über die Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion unter Dach und Fach gebracht werden konnte.
Das habe ich gar nicht mehr in Erinnerung.
Das alles wird in der bürgerlichen Öffentlichkeit bewusst verschwiegen, vor allem der Verfassungsentwurf des Runden Tisches. Er kam auch nicht in der salbungsvollen Rede des Bundespräsidenten im vergangenen Jahr zum 75. Jahrestag des Grundgesetzes zur Sprache. Ebenso wenig der Verfassungsentwurf des Kuratoriums für einen demokratischen Bund deutscher Länder, der maßgeblich von der SPD-Rechtsexpertin Herta Däubler-Gmelin auf den Weg gebracht wurde und vom Verfassungsentwurf des Runden Tisches beeinflusst war. Dabei hatte Frank-Walter Steinmeier selbst als Juso die linke Juristenzeitschrift »Demokratie und Recht« geleitet, die wegen ihrer Vorschläge zu einer linken Interpretation des Grundgesetzes und zum sogenannten Radikalenerlass vom Verfassungsschutz beobachtet wurde.
Es schien aber so, als sollte der Verfassungsentwurf des Runden Tisches dann doch noch mal eine Chance bekommen, zumindest als Ideengeber, als 1991 eine Verfassungskommission des Bundes berufen wurde, um das Grundgesetz eventuell zu aktualisieren.
Keine Chance. Die Machtverhältnisse im Bundestag waren eindeutig reaktionär, auch dank der Ossis. Die von SPD und Grünen auf den Weg gebrachte notwendige Verfassungsdiskussion, die nach dem Grundgesetz mit der deutschen Einheit verpflichtend war, wurde faktisch begraben. Die von Kohl und Co. als Leichenhalle für eine Verfassungsänderung installierte Kommission löste sich 1994 auf – mit dem Fazit, dass größere Änderungen im Grundgesetz ebenso entbehrlich seien wie eine Volksabstimmung unmöglich.
Und doch hat Ihr Verfassungsentwurf in ostdeutschen Landesverfassungen eine positive Aufhebung erfahren, am stärksten in der Brandenburger.
Aber auch in Berlin. In die Gesamtberliner Verfassung ist der Volksentscheid aufgenommen worden, den es in der Westberliner Verfassung nicht gab. Ohne diesen hätten wir unser Wasser nicht rekommunalisiert und gäbe es nicht die juristische Möglichkeit, profitgierige Immobilienhaie wie Deutsche Wohnen & Co. zu enteignen, sobald die politischen Kräfteverhältnisse das ermöglichen.
Ihr Kommentar zum Grundgesetz, wie es heute ist?
Das Grundgesetz enthält sowohl autoritäre Züge einer »Kanzler- und Parteiendemokratie« wie wichtige Elemente einer freiheitlichen Demokratie, die in den Zeiten »illiberaler Demokratien« à la Orbán und Co. unbedingt zu verteidigen sind. Seine wichtigste Schwäche ist freilich, dass es nicht antikapitalistisch fundiert ist. So sind die demokratischen Freiheiten permanent umzingelt von der Realität kapitalistischer sozialer Machtverhältnisse, die nicht demokratisch sind.
Das wäre übrigens auch der Verfassung passiert, die der Runde Tisch entworfen hatte.
Zudem ist das Grundgesetz schon vielfach geändert worden seit 1949. Die 1968 verabschiedeten »Notstandsgesetze«, gegen die sich die APO gebildet hatte, die Außerparlamentarische Opposition, bestehen bis heute, obwohl die Begründung dafür mit dem Ende der Blockkonfrontation obsolet geworden war. Und nach 1990 wurden per Bundesverfassungsgericht die im Grundgesetz definitiv festgeschriebenen Grenzen des Bundeswehreinsatzes auf die Landes- und Bündnisverteidigung uminterpretiert und Kriegsführung in aller Welt ermöglicht, wie die Kriege der BRD in Jugoslawien und Afghanistan. Auch dagegen ist das Grundgesetz zu verteidigen. Aus meiner Sicht hat das Grundgesetz im Laufe der Jahrzehnte weitaus mehr Verschlechterungen als Verbesserungen erfahren.
Und das bedeutet?
Deshalb müssen wir die darin verankerten demokratischen Freiheiten sowie die Menschen- und Bürgerrechte heute gegen jeglichen Demokratieabbau und emanzipatorischen Rückschritt durch die Herrschenden verteidigen. Das gilt auch, wenn aktuell die Angriffe im moralisch aufgeladenen Gewand einer vermeintlichen »deutschen Staatsräson« daherkommen. Doch jede »Staatsräson« steht über dem Gesetz, auch über dem Grundgesetz, und ist per se ein Angriff auf die Demokratie. Und das gilt erst recht gegenüber den Angriffen der internationalen Neuen Rechten, von Höcke über Putin bis Trump und Co., die von innen wie von außen versuchen, die ihnen verhassten Freiheitsrechte in demokratischen Staaten zu beseitigen, die seit der Französischen Revolution von der Arbeiter-, der Frauen- und anderen sozialen Bewegungen in den bürgerlichen Demokratien erkämpft wurden.
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