Berlin befürchtet »Überreaktion« Ankaras
Bundestag verabschiedet Völkermord-Resolution zu Armenien / Ankara nennt Armenier-Resolution »null und nichtig« / Türkei bestellt deutschen Geschäftsträger in Ankara ein und ruft ihren Botschafter aus Berlin zurück
Update 19.30 Uhr: Steinmeier fürchtet mögliche »Überreaktion« der Türkei
Nach Verabschiedung der Völkermord-Resolution des Bundestags fürchtet Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) eine mögliche »Überreaktion« der Türkei. »Ich hoffe, dass es uns gelingt die nächsten Tage und Wochen miteinander so zu gestalten, dass es zu keinen Überreaktionen kommt«, erklärte Steinmeier am Donnerstag am Rande seines Besuchs in Argentinien, wie das Auswärtige Amt in Berlin mitteilte. Steinmeier sieht die Entscheidung des Bundestags skeptisch; er hatte wegen seiner Reise an der Debatte und Abstimmung des Parlaments nicht teilgenommen.
In seiner Erklärung betonte Steinmeier nun die engen Bindungen zwischen der Türkei und Deutschland. »Und das geht weit über die politischen Beziehungen zwischen Regierungen hinaus«, sagte er und verwies unter anderem auf die rund drei Millionen türkischstämmigen Menschen in Deutschland.
Der Bundestag hatte am Donnerstag nach über einjähriger Diskussion eine von der Türkei heftig kritisierte Resolution verabschiedet, in der die Massaker an den Armeniern im Osmanischen Reich vor rund hundert Jahren als Völkermord eingestuft werden. Aus Protest gegen das Votum rief die Regierung in Ankara umgehend den türkischen Botschafter aus Berlin zurück und bestellte den deutschen Vertreter in Ankara ins türkische Außenministerium ein.
Steinmeier nannte diese Reaktion »erwartungsgemäß«. Er fügte hinzu, dass er sich weiter für einen Dialog zwischen Armenien und der Türkei einsetzen werde.
Ähnlich wie Steinmeier hatte zuvor auch schon Kanzlerin Angela Merkel (CDU) die Resolution kommentiert und deeskalierende Signale Richtung Ankara geschickt. Auch sie betonte die »freundschaftlichen Beziehungen« zwischen Deutschland und der Türkei. Merkel hatte ebenfalls nicht im Bundestag abgestimmt.
Update 17.10 Uhr: Türkei verurteilt Völkermordresolution als Assimilierungsversuch
Das türkische Außenministerium hat die Resolution als Versuch der Assimilierung von Türken in Deutschland kritisiert. Das Ministerium in Ankara teilte am Donnerstag mit: »Diese Initiative Deutschlands stellt einen Versuch dar, Türken und türkischstämmige Deutsche zu assimilieren.« Ziel sei, sie »von ihrer eigenen Geschichte und Eigenidentität zu entfremden«.
Von türkischen Kindern im deutschen Bildungssystem werde erwartet, dass sie eine Schilderung der Massaker an den Armeniern verteidigten, »die sie nicht glauben und von der sie wissen, dass sie nicht wahr ist«.
Mit dem Vorwurf belebt das Außenministerium einen eigentlich zu den Akten gelegten Disput. Der damalige Ministerpräsident und heutige Staatschef Recep Tayyip Erdogan hatte 2008 mit einer Rede in Köln Verstimmungen im deutsch-türkischen Verhältnis ausgelöst, als er sagte: »Assimilierung ist ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit.« Er hatte später allerdings an die in Deutschland lebenden Türken appelliert, Deutsch zu lernen und sich zu integrieren.
Assimilation bedeutet im Unterschied zur Integration eine völlige Anpassung der Zuwanderer an eine Gesellschaft - auch Gebräuche oder Religion der alten Heimat werden dabei preisgeben. Die Bundesregierung hat in der Vergangenheit betont, niemand erwarte, dass sich die türkischstämmige Bevölkerung assimiliere.
Update 16.50 Uhr: AKP-Vorstandsmitglied nennt türkischstämmige Resolutions-Unterstützer »Verräter«
Der türkische AKP-Parlamentarier Burhan Kuzu hat türkischstämmige Unterstützer der Völkermord-Resolution im Bundestag als »Verräter« bezeichnet und sie vor Reisen in die Türkei gewarnt. Kuzu ist Mitglied des Vorstands der islamisch-konservativen Regierungspartei AKP.
»Die türkischstämmigen Abgeordneten im deutschen Parlament, die die Völkermordentscheidung unterschrieben haben, sollen keinen Fuß mehr in dieses Land setzen«, schrieb Kuzu am Donnerstag auf Twitter. Den Grünen-Chef Cem Özdemir, der zu den Initiatoren der Resolution gehörte, zählte er zu den »Verrätern«.
»Schäme Dich, Deutschland. Kümmere Dich erst um Deine eigene schmutzige Geschichte. Ist Hitler etwa Türke?«, schrieb Kuzu. »Der deutsche Ungläubige hat's wieder einmal getan. Ich habe es immer gesagt; Deutschland war uns niemals ein ehrlicher Freund.« Mit Blick auf die Deutschen meint er: »Das Osmanische Reich ist wegen ihnen auseinandergefallen.«
Update 15.00 Uhr: Türkei bestellt deutschen Geschäftsträger in Ankara ein
Aus Protest gegen die Armenier-Resolution des Bundestages hat die türkische Regierung am Donnerstag den Geschäftsträger der deutschen Botschaft in Ankara ins Außenamt zitiert. Das Gespräch sei für den Nachmittag geplant, hieß es am Donnerstag in diplomatischen Kreisen. Der deutsche Botschafter Martin Erdmann hält sich demnach derzeit nicht in der türkischen Hauptstadt auf.
Zudem drohte Staatspräsident Erdogan, die am Donnerstag verabschiedete Resolution werde »ernste« Folgen für die deutsch-türkischen Beziehungen haben.
Update 14.05 Uhr: Armenien begrüßt Völkermord-Resolution
Die Südkaukasusrepublik Armenien hat die Völkermord-Resolution des Bundestages als wertvollen Beitrag in der internationalen Debatte begrüßt. »Während Deutschland und Österreich als frühere Verbündete des Osmanischen Reiches ihren Teil der Verantwortung anerkennen, leugnen die türkischen Behörden den unwiderlegbaren Fakt des Völkermordes beharrlich«, sagte Außenminister Edward Nalbandian am Donnerstag. »Die internationale Gemeinschaft wartet seit 101 Jahr darauf, dass sich die Türkei ihrer eigenen Geschichte stellt«, sagte er in der Hauptstadt Eriwan.
Update 14.00 Uhr: Türkische Regierung bezeichnet Armenier-Resolution als »null und nichtig«
Die türkische Regierung hat die Armenier-Resolution des Bundestags als »null und nichtig« bezeichnet. Das deutsche Parlament habe die Massaker an den Armeniern im Ersten Weltkrieg auf der Grundlage »verzerrter und gegenstandsloser Unterstellungen« als Völkermord eingestuft und damit einen »historischen Fehler« gemacht, erklärte Regierungssprecher Numan Kurtulmus am Donnerstag im Kurzbotschaftendienst Twitter. Für die türkische Regierung sei die Entscheidung daher gegenstandslos.
Der türkische Außenminister Mevlüt Cavusoglu kritisierte die Bundestagsentscheidung auf Twitter als »unverantwortlich und haltlos«. Cavusoglu warf Deutschland vor, die dunklen Kapitel der eigenen Geschichte überdecken zu wollen, indem »die Geschichte anderer Länder angeschwärzt wird«.
Medienberichten zufolge ruft die Türkei aus Protest gegen die Armenier-Resolution ihren Botschafter aus Berlin zurück. Botschafter Hüsein Avni Karslioglu werde noch am Donnerstagnachmittag in ein Flugzeug nach Ankara steigen, meldete die regierungsnahe Zeitung »Yeni Safak« auf ihrer Internetseite. Auch die Online-Ausgaben der regierungsfreundlichen Zeitung »Sabah« berichtete, die Türkei rufe ihren Botschafter zurück.
Eine Bestätigung der türkischen Regierung für die Meldungen lag zunächst nicht vor. Die Türkei hatte nach der Anerkennung des Völkermordes an den Armeniern durch andere Länder in den vergangenen Jahren ebenfalls mit der vorübergehenden Rückbeorderung ihrer Botschafter reagiert.
Bundestag verabschiedet Völkermord-Resolution zu Armenien
Berlin. Mit breiter Mehrheit hat der Bundestag am Donnerstag die lang umstrittene Resolution zur Erinnerung an den Völkermord an den Armeniern verabschiedet. Im Parlament gab es nur eine Gegenstimme und eine Enthaltung. Erstmals bezeichnet das deutsche Parlament in dem Antrag die Vertreibung und Ermordung der Armenier und anderer christlicher Minderheiten vor 100 Jahren im Osmanischen Reich als Völkermord.
Aus Protest gegen die Armenier-Entschließung des Bundestages soll die Türkei laut Medienberichten ihren Botschafter aus Berlin zurück gerufen haben. Botschafter Hüsein Avni Karslioglu werde noch am Donnerstagnachmittag ins Flugzeug nach Ankara besteigen, meldete die regierungsnahe Zeitung »Yeni Safak« auf ihrer Internetseite. Auch die Online-Ausgabe der Zeitung »Sabah« berichtete, die Türkei rufe ihren Botschafter zurück. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan warnte im Vorfeld der Abstimmung wegen der Resolution vor einer Verschlechterung der deutsch-türkischen Beziehungen.
Das Schicksal der Armenier stehe »beispielhaft für die Geschichte der Massenvernichtungen, der ethnischen Säuberungen, der Vertreibungen, ja der Völkermorde, von denen das 20. Jahrhundert auf so schreckliche Weise gekennzeichnet ist«, heißt es in dem Antrag. Um die Formulierung war lange gerungen worden. Aus Rücksicht auf die Türkei, die die Bezeichnung ablehnt, verzichtete Deutschland lange Zeit auf den Begriff Völkermord.
Die Resolution des Bundestags appelliert an die Türkei und Armenien, sich um Verständigung, Versöhnung und Aufarbeitung der Geschichte einzusetzen. Außerdem wird eine deutsche Mitschuld an den Verbrechen benannt. Das Deutsche Reich als enger Verbündeter des Osmanischen Reiches hat damals zu den Verbrechen geschwiegen.
Der Antrag wurde gemeinsam von den Fraktionen von CDU/CSU, SPD und Grünen eingebracht. Die Linke brachte einen eigenen Antrag ein, der abgelehnt wurde, stimmte aber auch für den Antrag der drei anderen Fraktionen.
Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU), Vizekanzler Sigmar Gabriel (SPD) und Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) waren aus Termingründen bei der Abstimmung nicht anwesend. Der Linken-Abgeordnete Gregor Gysi kritisierte das Fernbleiben der führenden Kabinettsmitglieder. Das sei »nicht besonders mutig«, sagte Gysi. Die Kanzlerin besuchte als Gastrednerin den »Nationalen MINT-Gipfel« in Berlin. Steinmeier befindet sich derzeit auf Lateinamerika-Tour. Gabriel besuchte den Innovationstag Mittelstand 2016 in Berlin.
Kritiker werfen der Bundesregierung vor, derzeit wegen des Flüchtlingspakts zwischen der Europäischen Union und der Türkei einen Kuschelkurs gegenüber der Regierung in Ankara zu fahren.
In der Debatte betonten mehrere Abgeordnete, mit der Resolution sei keine Verurteilung im juristischen Sinne verbunden. Mit dem Antrag solle den Opfern gedacht und die Aufarbeitung der Geschehen und die Versöhnung zwischen Türken und Armeniern vorangebracht werden. »Das ist keine Anklageschrift, sondern das ist eine Verneigung vor den Opfern«, sagte der SPD-Abgeordnete Dietmar Nietan. »Wir sitzen hier nicht zu Gericht.« Agenturen/nd
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.