Arbeiten und Bezahlen ohne Zwang
Jesta Phoenix bekommt ein Jahr lang jeden Monat 1000 Euro Grundeinkommen ausgezahlt - sie plant ein Experiment
Jesta Phoenix spricht fließend Deutsch und Englisch, Russisch »wie eine Emigrantin aus den 70ern«, Spanisch trainiert sie immer wieder, wie sie sagt. Seit 2014 arbeitet sie selbstständig als »Slow Business Coach« und berät Selbstständige zu besserem Zeitmanagement. Im April 2016 hat sie das große Los gezogen: bei der Initiative www.mein-grundeinkommen.de gewann sie das 30. bedingungslose Grundeinkommen für ein Jahr - und damit Zeit. In den kommenden zwölf Monaten probiert die gebürtige Russin ein humanistisches Experiment aus. Doch vor allem lebt sie zwölf Monate ohne Existenzangst. Jesta wird bald 40 Jahre alt. Sie steht mit Begabung, Empathie und guten Wissens- und Erkenntniswerkzeugen vor einem noch mindestens 27 Jahre langen Berufsweg, der materiell völlig unbefestigt ist.
Dabei hat Jesta neben ihrer Sprachtätigkeit einen Masterabschluss als Drehbuchschreiberin von der Universität in Leicester. Von 1998 bis 2001 lebte sie in London. Nach ihrer Rückkehr nach Berlin arbeitete sie viele Jahre als Autorin für »The English Theatre Berlin« und als Dozentin für kreatives Schreiben an der Open University in Großbritannien, der größten Fernuniversität der Welt. Sie ist in Leningrad geboren und hat ihre Kindheit im kleinen Arbeiterstädtchen Hennigsdorf bei Berlin verbracht. Jesta ist in der Lage, ihre Ressourcen zu kennen, aufzubereiten, zu nutzen und in die Waagschale zu werfen. Also wurde sie Beraterin.
Doch was liegt in der anderen Waagschale? Dort drückt die monatliche Miete, laufen jeden Monat Lebenshaltungskosten auf, die die Existenz des Vierpersonenhaushalts sichern sollen. Jestas Lebenspartnerin ist Doktorandin an der Humboldt-Universität, die zwei Kinder sind fünf und drei Jahre alt. Die Einkommen der Akademikerinnen reichen zusammen für ein »sehr minimalistisches Leben«.
Als das jüngere Kind Jasper ein Jahr alt war, machte sich Jesta als »Slow Business Coach« selbstständig. Sie hatte während ihrer kreativen Arbeit viele Leute getroffen, die am »Wie« scheiterten - zu viel Druck und fehlende Organisation -, und nicht am »Was«. Um gemeinsam mit ihnen einen Weg zu finden, absolvierte Jesta eine Ausbildung als Personal und Business Coach. »Was ich selbst gesucht habe, bin ich geworden.« Heute trifft sie ihre Klienten in der Natur am Berliner Müggelsee. Sie spricht mit ihnen über die Beweggründe, die sie zu ihr führen, meist nach drei Jahren Selbstständigkeit. Jesta bekam im ersten Jahr Existenzgründungshilfe durch die Bundesagentur für Arbeit. Seit einem Jahr nun ist sie in der »freien« Marktwirtschaft angekommen, mit all ihren Vor- und Nachteilen.
Es war zu Weihnachten 2014, als Jesta entschied, ein neues Projekt zu unterstützen, möglichst per »Crowd- funding«. Die in der Filmbranche bereits übliche Schwarmfinanzierung ist inzwischen in vielen anderen Gesellschaftsbereichen angekommen. Der Berliner Onlineunternehmer Michael Bohmeyer etwa hatte die Idee, mittels Geldspenden Menschen ein einjähriges bedingungsloses Grundeinkommen (BGE) zu ermöglichen. Bisher hat seine Initiative 43 Grundeinkommen verlost. Notwendig dafür ist nur eine Anmeldung auf mein-grundeinkommen.de und eine kurze Erklärung, was man mit dem gewonnenen Geld anstellen möchte. Die hat allerdings keinen Einfluss auf die Gewinnchancen, auch wer ein Jahr in der Hängematte liegen möchte, darf mitmachen. Bisher haben sich etwa 300 000 Menschen registriert, rund 45 000 Spender finanzierten die Grundeinkommen. »Seit Herbst 2015 erleben wir einen Boom durch unsere wachsenden Strukturen und unsere professionellere Öffentlichkeitsarbeit, sicher auch durch die Debatte in der Schweiz«, stellt Mitarbeiter Christian Lichtenberg fest.
Jesta spendete ab Dezember 2014 monatlich einen Euro. »Mir ging es gar nicht um die Verlosung, sondern um die Arbeit an dieser Idee.« Im April 2016 kam die Nachricht: Sie hatte das 30. BGE gewonnen. »Das schafft meine Ängste, zumindest für ein Jahr, ab. Es geht nicht darum, ob sich die Gesellschaft Menschen leisten möchte, die nichts tun«, sagt die Kosmopolitin. Es müsse doch möglich sein, dass man Spaß an der Arbeit habe und nicht schuften müsse, bis man krank sei. »Gleichzeitig mit Freude arbeiten und dabei Geld verdienen - wenn ich das Leuten erzähle, halten sie es für das Paradies und gleichzeitig für ein Paradox.«
Jesta wird die 1000 Euro monatlich nicht als Puffer nutzen, um ihre Existenz zu sichern. »Mein erster Gedanke war: Endlich kann ich so arbeiten, wie ich will. Ich gönne mir das Ausprobieren meiner eigenen Utopie, die ich nach dem Jahr gern fortführen möchte.« Dahinter steckt die Idee, ihre Klienten selbst entscheiden zu lassen, was Jestas Beratung ihnen wert ist, was sie sich leisten können. Sie möchte ihren Klienten Fragebögen mitgeben, um herauszufinden, wie sie den Preis bestimmt haben. Die zweifache Mutter wird ihr Jahr ausführlich auf ihrem Blog dokumentieren. Dort experimentiert sie auch anderweitig mit den Bedingungen der Arbeitswelt - unter anderem testet sie gerade, ob ein Acht-Stunden-Tag wirklich notwendig ist.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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