Wuchtig, giftig, Island

Erstmals fiebern die nur 320 000 Isländer mit ihrer Nationalelf bei einer EM mit

  • Andreas Morbach, Annecy
  • Lesedauer: 4 Min.
Der Wahnsinn hat Methode: Mit einer Besinnung auf die kämpferischen Qualitäten wollen die Isländer gegen Portugal, Österreich und Ungarn bei der EM bestehen.

Auf den ersten Blick sind Eidur Gudjohnsons Ansprüche an die Zeit nach der Fußballerkarriere bescheiden. »Ich will etwas finden, das mir zehn Prozent des Gefühls oder des Adrenalins gibt, das ich beim Fußballspielen habe«, betont der 37-Jährige. Zehn Prozent - das klingt machbar. Trotzdem zog es Islands Fußballikone bislang vor, eine Sinnsuche jenseits der Seitenauslinie noch aufzuschieben. Nach seiner großen Dekade beim FC Chelsea und in Barcelona ist Gudjohnson sieben Jahre von Klub zu Klub getingelt, hat in Frankreich, England, Griechenland, Belgien, China und Norwegen gespielt - und nebenher über die Auswahl seines Heimatlands gestaunt.

Nach den verlorenen Playoffs gegen Kroatien für die WM 2014 war er aus dem Nationalteam zurückgetreten, 16 Monate später ist er nun zurückgekehrt, begeistert über den fulminanten Start der Isländer in die EM-Qualifikation - und sagt heute: »Ich bin in Frankreich nicht nur zum Spaß dabei. Ich hoffe, ich kann eine einflussreiche Rolle in dieser Mannschaft spielen.«

Für Gylfi Sigurdsson sind solche Überlegungen bereits Gewissheit. Der frühere Hoffenheimer ist der Star in Islands Ensemble. Mit sechs Toren war er maßgeblich an der erstaunlichen Direktqualifikation der Nordmänner beteiligt, das Toreschießen bei den 2:0- und 1:0-Siegen über den verwirrten WM-Dritten Holland übernahm er dabei zu hundert Prozent.

Ein dürres 0:0 gegen Kasachstan stürzte seine 320 000 Landsleute drei Tage nach dem zweiten Triumph über Oranje in eine nie gekannte Fußballekstase. Denn nach 23 vergeblichen Versuchen war vollbracht, was Lars Lagerbäck, der aus Schweden stammende Nationalcoach der »goldenen Generation« schon für die WM 2014 zugetraut hatte: der Sprung zu einer Endrunde. Als es passiert war, war Sigurdsson dennoch perplex: »Dass sich ein kleines Land wie wir zwei Spieltage vor Schluss in einer Gruppe mit den Niederlanden, mit Tschechien und der Türkei qualifiziert hat, ist Wahnsinn.«

Doch der Wahnsinn hat Methode: Seit Mitte der 1990er machten sich die Verbandschefs intensiv Gedanken, wie der Dauerfrust gegen die besten Teams des Kontinents zu beenden sei. Im Jahr 2000 entstand in der Nähe des internationalen Flughafens in Keflavik dann die erste jener gewaltigen Fußballhallen, in denen auf dem kühlen Eiland nun das ganze Jahr über gekickt werden kann. Davon profitiert der Nachwuchs, der nicht mehr den Tücken von Wind und Wetter ausgesetzt ist, was vor allem der technischen Ausbildung der Spieler zugutekommt.

Inzwischen gibt es sieben große und vier kleine dieser Hallen, manche davon bieten mehreren Tausend Zuschauern Platz. Parallel dazu wurde die Ausbildung der Trainer optimiert, attraktiver gemacht und durch forcierte sportwissenschaftliche Forschung flankiert. Schritt für Schritt ging es so voran - bis die jungen Isländer in der Qualifikation zur U21-EM 2011 Titelverteidiger Deutschland aus dem Wettbewerb kippten.

Mit dabei waren damals Spieler wie Sigurdsson, Augsburgs Alfred Finnbogason, der zentrale Mittelfeldmann Aron Gunnarsson (Cardiff City) und Angreifer Kolbeinn Sigthorsson (FC Nantes) - die nun das Gerüst von Lagerbäcks Auswahl in Frankreich bilden. Dabei ist das Spiel der Isländer kein Hexenwerk, sondern beruht auf deren klassischem Rezept: Eine wuchtige, gut organisierte Verteidigung plus giftiges Konterspiel - aktuell bereichert durch die spezielle Gewürzmischung des Gylfi Sigurdsson.

Der 26-Jährige von Swansea City ist als laufstarker Mittelfeldakteur Dreh- und Angelpunkt des Teams, dazu als Freistoß- und Distanzschütze gleichermaßen gefürchtet. Dank eines federleichten Laufs durchs Frühjahr - neun seiner elf Treffer in der Premier League erzielte Sigurdsson in der Rückrunde - sind inzwischen einige europäische Topklubs hinter dem Ex-Hoffenheimer her, darunter Dortmund, Leicester, Florenz und Hertha BSC.

Zunächst aber will der Gejagte mit seinen Isländern, die während der EM in Annecy logieren, deren Endrundenpremiere auskosten. »Ich denke, die meisten von uns werden diese Erfahrung einfach in vollen Zügen genießen wollen«, sagt Sigurdsson. Wobei Mannschaftskollege Finnbogason vor den Gruppenspielen gegen Portugal, Ungarn und Österreich aber schon anmerkt: »Wir haben eine gute Ausgangsposition. Und wenn wir uns für die K.o.-Runde qualifizieren, ist alles möglich.«

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