Westdeutsche Netzwerke der Macht
Soziologe und Elitenforscher Raj Kollmorgen über die Frage, warum Ostdeutschen der Aufstieg in Führungspositionen so selten gelingt
Mehr als ein Vierteljahrhundert nach dem Beitritt der DDR sind Ostdeutsche in Führungspositionen immer noch unterrepräsentiert. Einer Studie der Uni Leipzig zufolge geht ihr Anteil sogar wieder zurück. Warum sitzen die heute 40-jährigen Wendekinder nicht in verantwortlichen Position?
Der erste wesentliche Grund ist, dass wir durch den Vereinigungsprozess, der auf dem Wege des Beitritts erfolgte, eine komplette Übernahme der Ordnung der Bundesrepublik hatten. Das entwertete Qualifikationen und zwar sowohl formale als auch informelle Qualifikationen der Ostdeutschen. Somit fehlten die Voraussetzungen für eine Karriere bei den »Ernennungs-Eliten«, also jenen Eliten, bei denen es klar strukturierte Laufbahnen gibt, wo Qualifikationen und Qualifikationserwerb Voraussetzungen dafür sind, auf eine solche Position zu kommen, etwa bei Militär, Polizei, Justiz und zum Teil auch in der Verwaltung. Hier kommt man nur in Elitepositionen, wenn man bestimmte Laufbahnen beschritten hat. Die Ostdeutschen konnten 10 bis 15 Jahre lang hier nicht aufrücken.
Diese dauerhafte Absenz der Ostdeutschen war politisch gewollt?
Teilweise ja. Man hätte Qualifikationen der Ostdeutschen anerkennen können. Das wollte man aus verschiedenen Gründen nicht. Und deswegen hat sich das in den ersten Jahren zunächst so verfestigt.
Raj Kollmorgen ist Soziologe und lehrt an der Hochschule Zittau/Görlitz. Er hat dort die Professur für Soziologie/Management sozialen Wandels inne. Seit Jahren forscht der 1963 in Leipzig geborene Hochschullehrer zu postsozialistischer Transformation in Mittelost- und Osteuropa.
Wer keine Karriere im Verwaltungsapparat machen kann, dem bleibt noch die freie Wirtschaft. Doch auch hier sind Ostdeutsche kaum zu finden, weder als Vorstandschefs noch als Millionäre.
Die Ostdeutschen verfügten nicht über das notwendige Kapital - wo sollte es auch herkommen. Die Verteilung des Volksvermögens mit dem Treuhandmodell führte im wesentlichen dazu, dass in wertmäßiger Hinsicht 85 Prozent des Volksvermögens in westdeutsche Hände gerieten. Insofern konnten die Ostdeutschen in den ersten Jahren auch da keine Elitepositionen besetzen. Noch heute verfügen Menschen in den neuen Ländern im Durchschnitt über 40 Prozent der Vermögenswerte von Westdeutschen, also nicht mal die Hälfte. Die Möglichkeit, dass Ostdeutsche unkompliziert größere Privatvermögen aufbauen konnten, um entsprechend zu investieren, war beschränkt. Es gibt zwar kleine und mittelständische Unternehmen in ostdeutscher Hand, aber keine Großunternehmen. Und deren Besitzer oder große Anteilseigener zählen zu den Besitzeliten. Wenn man sich die Liste der 500 reichsten Familien in der Bundesrepublik anschaut, dann findet man keine einzige ostdeutsche darunter.
Trotzdem klärt das nicht die Frage, warum Ostdeutsche, die zur Wendezeit 15 oder 16 Jahre alt waren, heute keine Führungspositionen übernehmen. Im besten Alter wären sie …
Was diese Besitzeliten betrifft, kann man sich auch in Westdeutschland umschauen. Dort gelingt Kindern aus den unteren Mittelschichten, die durch Bildungserwerb eigentlich die Chance hätten, so eine Führungsposition zu besetzen, auch nur äußerst selten der Aufstieg nach ganz oben. Es gibt eine hohe Reproduktion von Besitzeliten in der Bundesrepublik.
Reproduktion heißt, Reichtum und Macht bleiben quasi in der Familie?
Genau, es bleibt dann in den Kreisen, weil es außerordentlich schwer ist, solche Vermögenswerte unproblematisch zu akkumulieren.
Aber in der Verwaltung und beim Militär spielt das Geld der Familie doch eine geringere Rolle. Hier sollten sich doch jene mit der besten Qualifikation durchsetzen, also auch Ostdeutsche.
Auch bei den Ernennungs-Eliten tauchen die Kinder derer nicht auf, die 1989/90 die Wende bewältigt haben oder die friedliche Revolution realisierten, weil es bei Eliten ein grundsätzliches Muster gibt. Das hat nichts mit Ost und West zu tun, sondern das liegt in der Natur von Eliten-Bildung und Eliten-Reproduktion selbst. Eliten reproduzieren sich tatsächlich in einem hohen Maße selbst, weil bestimmte Bildungswege, Bildungsniveaus oder sprachliche Ausdrucksfähigkeiten und Selbstbewusstsein in den Familien und Milieus weitergegeben werden. Es handelt sich schlicht um kulturelle Sozialisationsprozesse.
Wer aus einem anderen Milieu kommt, bringt nicht den richtigen Stallgeruch mit?
Man kennt sich und erkennt sich, findet sich im anderen wieder. Diese Leute kommen in die engere Auswahl. Auf der anderen Seite gibt es Menschen bzw. Bewerber, die etwa aus Sachsen kommen, einen fremden Dialekt sprechen, einem unbekannten Milieu entstammen und eine andere Freizeitorientierung haben, also nicht Golf spielen und segeln gehen. Da wird schnell eine kulturelle Differenz sichtbar. Kinder von Eliten-Angehörigen hingegen sind dafür prädestiniert, selbst Elitepositionen zu besetzen.
Der Sohn des Gerichtspräsidenten wird also eines Tages selbst einer?
Das gilt nicht unbedingt für den selben Sektor. Der Sohn des Gerichtspräsidenten kann auch Karriere in einem Ministerium machen. Er bekommt das notwendige kulturelle Kapital von seinen Eltern mit, also das Selbstbewusstsein und eine Mentalität, die ihn dazu befähigt aufzurücken. Diese Mentalität ist bei den Ostdeutschen weniger ausgeprägt. Deswegen findet auch nach 25 Jahren kein Aufrücken der Ostdeutschen statt. Diese Netzwerke der Macht, die sich hochgradig selbst reproduzieren, finden wir aber auch in anderen Zusammenhängen. Nicht nur im Ost-West-Verhältnis, sondern auch bei Männern und Frauen, oder von »eingeborenen« Deutschen und Menschen mit Migrationshintergrund. Frauen und Migranten rücken auch selten auf, obwohl sie formal die gleichen Chancen besitzen.
Dann wird sich in absehbarer Zeit an dieser Unterrepräsentanz nichts ändern?
Diese Netzwerke sind nicht hermetisch abgeschirmt. Einzelne können in bestimmten Eliten-Sektoren aufrücken. Durch Annäherung an die Milieus und die Mentalitäten der Herrschenden. Aber es ist eben auch eine Erziehungsfrage. Ostdeutsche Eltern, die nach der Wende Arbeitslosigkeit, Existenzangst und Entwertung ihrer Qualifikationen erlebten, haben ihren Kindern beigebracht, sich bei der Berufswahl stärker an Sicherheit zu orientieren, also Berufe zu erlernen oder Fächer zu studieren mit einer geringen Wahrscheinlichkeit, irgendwann arbeitslos zu werden. Diese risikoarmen Strategien können durchaus einen Aufstieg ermöglichen, aber eben nicht unbedingt in wirkliche Elitepositionen.
Also Maschinenbau statt Business Administration?
Genau. Ostdeutsche verfolgen eher eine defensive Strategie, eine Strategie, die auf Sicherheit setzt und weniger auf Risiko und Aufstieg. Zwar haben sich die Einstellungen in jüngster Zeit verändert und nähern sich den westdeutschen an, so dass man längerfristig hoffen kann, dass sich die Verhältnisse ein bisschen zugunsten der Ostdeutschen verändern. Aber das vollzieht sich alles sehr langsam.
Wenn Ostdeutsche nicht aufsteigen können, weil westdeutsche Netzwerke der Macht hier blockieren, müsste man da nicht über eine Ossi-Quote nachdenken?
In den ersten Jahren nach der Vereinigung hätte man tatsächlich etwas ausrichten können mit einer Quotenregelung, wie immer die genau ausgesehen hätte. Das hat man aus politischen Gründen und Opportunitätserwägungen nicht getan. Natürlich auch aus einem Machtinteresse der westdeutschen Eliten. 25 Jahre nach der Einigung käme eine Quote zu spät.
Aber Sie haben doch selbst gesagt, dass Ostdeutsche benachteiligt sind und deshalb nur schwer aufsteigen können …
Ich kenne keine politische Kraft, die sich offensiv für eine Quote einsetzt. Nicht mal die LINKE. Es ist heute ungleich schwieriger, in vielen Fällen nahezu unmöglich festzustellen, wer eigentlich Ostdeutscher und wer Westdeutscher ist. So gibt es eine steigende Anzahl von jüngeren Menschen, deren Eltern nach der Wende in den Osten gegangen sind, die dort aufgewachsen und oft auch geboren sind. Soll man die jetzt mit einbeziehen? Nicht zu vergessen auch jene zwei Millionen, die seit dem Herbst 1989 von Ost nach West gewandert sind. Sollen deren Kinder nun als Ostdeutsche oder Westdeutsche gelten? Und was ist mit den Kindern aus West-Ost-Ehen? So eine Quote ist rechtlich gar nicht mehr durchsetzbar.
Erledigt sich das Problem nicht sogar von selbst? Die heute 20-Jährige denken doch kaum noch in Ost-West-Kategorien.
Bei den Jugendlichen sind die Unterschiede in den Orientierungen deutlich geringer geworden sind, da sind zum Teil die Nord-Süd-Orientierungen oder zwischen den sozialen Milieus stärker als die zwischen Ost und West. Andererseits muss man hinnehmen, dass es eben doch noch eine Ost-West-Differenz gibt. Bei vielen Indikatoren kann man die alte innerdeutsche Grenze völlig unproblematisch nachvollziehen. Etwa beim Bruttoinlandsprodukt pro Einwohner, bei Arbeitsproduktivität, wirtschaftlichen Forschungskapazitäten, Einkommen und Vermögensverteilung. Die Ost-West-Konturierung speist sich zudem aus kulturellen Traditionsbeständen und deren intergenerationaler Weitergabe. Ostdeutschland hängt, abgesehen von einigen Inseln der Prosperität, noch immer am Tropf Westdeutschlands. Es gibt eine Transferökonomie. Vielen ostdeutschen Regionen wird ein Verliererstatus zugesprochen. Das schlägt sich in der Mentalität nieder. Auch wenn die Betroffenen das oft nicht wahrhaben wollen, werden die Unterschiede weiterhin Bestand haben.
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.