Der Eid der Fußball-Genossen

Verhindert zu viel Talent den Erfolg der vielversprechenden Schweizer Mannschaft?

Zu dieser Europameisterschaft ist die Schweizer Nationalmannschaft mit so viel Euphorie wie noch zu keinem Turnier zuvor gekommen. Gerechtfertigt hat sie das bislang noch nicht. Eine wissenschaftliche Studie über den »Zu-Viel-Talent-Effekt« erklärt das Missverhältnis.

Eli Xhaka ist derzeit im Dauerstress. Sie ist die Mutter von Granit und Taulant Xhaka, die beide gerade bei der Europameisterschaft in Frankreich Fußball spielen – in zwei verschiedenen Teams. Granit läuft für die Schweiz auf, Taulant trägt das albanische Trikot. Ihr EM-Auftaktspiel in der Gruppe A bestritten beide in Lens gegeneinander. Am Mittwoch musste sich Eli Xhaka zwischen Paris und Marseille entscheiden. Sie nahm den kürzeren Weg und kam in die französische Hauptstadt.

Nimmt man den Jubelfaktor, war es die richtige Wahl. Während Taulant mit Albanien am Mittelmeer gegen Frankreich 0:2 verlor, holte Granit beim 1:1 gegen Rumänien im Prinzenparkstadion immerhin einen Punkt – und wurde wie schon bei der gewonnenen Auftaktpartie als Spieler des Spiels ausgezeichnet.

In der Halbzeitpause suchte Eli Xhaka etwas Ruhe und lehnte im Sonnenschein an der Stadionmauer. Aber nicht lange. Ununterbrochen kamen Schweizer Fans und wollten ein Foto mit der berühmten Fußballmutter. Fast die ganze Viertelstunde lächelte sie in unzählige Handykameras. Wenn schon kein Selfie mit einem Spieler, dann zumindest mit einem Familienmitglied: Die Begeisterung der Schweizer für ihre »Nati« ist derzeit ungemein groß. Die Stimmung im Stadion vor dem Anpfiff war grandios. Und sowohl nach dem 0:1 durch Bogdan Stancu in der 18. Minute als auch nach dem Schlusspfiff verbreiteten die Fans immer noch Optimismus.

All das hat einen einfachen Grund: Das Schweizer Nationalteam ist so vielversprechend besetzt wie vielleicht noch nie. Granit Xhaka beispielsweise wechselte jüngst für 45 Millionen Euro von Borussia Mönchengladbach zu Arsenal London. Ottmar Hitzfeld, ehemaliger Trainer der Nati, schwärmte nach der geglückten EM-Qualifikation: »Da ist ein riesiges Entwicklungspotenzial, in dieser Truppe steckt noch viel mehr.« Und so schworen die Fußball-Genossen vor dem Turnier einen Eid, den der jetzige Trainer Vladimir Petkovic mit viel Pathos verkündete: »Wir wollen in Frankreich Geschichte schreiben.«

Ganz konkret wurde Petkovic mit Blick auf die Gruppenphase. »Ziel ist es, nach den ersten zwei Spielen fürs Achtelfinale qualifiziert zu sein.« Nach dem 1:1 gegen Rumänien am Mittwochabend steht fest: Das Ziel wurde verfehlt. Und nun kommt am Sonntag das Duell mit den Franzosen. Angesichts des Gegners im abschließenden Gruppenspiel könnte die EM für die Schweizer Nationalmannschaft zur bösen Überraschung werden.

Gegen Rumänien konnte man schon sehen, was die Schweizer können. Sie können ein Spiel aufbauen und den Gegner Dank guter Technik und ordentlichem Passspiel beherrschen. 61 Prozent Ballbesitz hatten sie und spielten mit 528 Pässen mehr als doppelt so viele wie die Rumänen. Petkovic war »zufrieden«, weil sein Team die Partie »90 Minuten dominiert« hat. Granit Xhaka hatte gar »das beste Spiel seit langem« erlebt. Zum erfolgreichen Fußball gehören aber nun mal Tore. Und da hat eines, trotz 19 Torschussversuchen, nur zu einem Punkt gereicht. Der Ausgleichstreffer von Admir Mehmdi in der 57. Minute aus halblinker Position war immerhin sehr sehenswert: Mit 118 Kilometern pro Stunde flog der Ball ins rechte obere Eck.

Rund 70 Kilometer südlich von Paris findet man eine Erklärung für die Probleme der Schweizer Nationalmannschaft. In Fontainebleau haben vor zwei Jahren Wissenschaftler um Roderick Swaab von der Insead-Wirtschaftsuniversität eine Studie mit dem Titel »The Too-Much-Talent-Effect« veröffentlicht. Die Kernaussage: Zu viele individuelle Talente in einer Mannschaft können die Bereitschaft der Spieler verringern, zusammenzuarbeiten. Darunter leide das Teamwork und somit die Gesamtleistung der Mannschaft. Untersucht wurden Spiele der Fußball-WM 2010, Qualifikationsspiele zu den Weltmeisterschaften 2010 und 2014 sowie Daten aus zehn Jahren Basketball in der NBA und Baseballspiele in den USA. Interessant: Im Baseball konnte der »Zu-Viel-Talent-Effekt« nicht nachgewiesen werden, da es dort weniger auf Leistung und Zusammenspiel der Mannschaft, sondern auf die Qualität einzelner Sportler ankommt.

Im Spiel gegen Rumänien war dieser Effekt bei den Schweizern mehrfach zu beobachten. Als Blerim Dzemali vom FC Genua in der 83. Minute ausgewechselt wurde, ließ er sich für seinen Abgang Zeit. Er ging statt zu sprinten, obwohl seiner Mannschaft kaum noch Zeit blieb, vielleicht doch noch den Siegtreffer zu erzielen. Er ließ sich feiern, klatschte in jede Richtung des Stadions, wo er rote Trikots von Schweizer Fans erblicken konnte. Teamgeist bewies er auch sechs Minuten zuvor schon nicht. Statt den Ball zu kontrollieren und vielleicht einen besser postierten Mitspieler zu suchen, nahm er das Spielgerät lieber spektakulär aus 15 Metern volley – einer von insgesamt 13 oft eigensinnigen Torschussversuchen der Schweizer, bei denen der Ball nicht mal aufs Tor kam.

Xherdan Shaqiris Fallrückzieher in der 74. Minute war der Höhepunkt des Schweizer Egoismus: Frei und in aussichtsreicher Position im rumänischen Strafraum hob er ab – und nutzte die ganze Höhe des Platzes. Elf Minuten davor hatte es die Schweizer Fans nicht mehr auf ihren Sitzen gehalten. Unter großem Jubel wurde endlich Breel Embolo eingewechselt. Das nächste Schweizer Supertalent brachte außer einem Kopfball, der recht weit neben dem Pfosten des rumänischen Tores landete, nichts zustande. Meist suchte er die Eins-gegen-Eins-Situationen, manchmal wollte er es auch gleich mit zwei oder drei Gegnern aufnehmen – gewinnen konnte er keines dieser Duelle.

Ein wirkliches Miteinander vermittelten die Schweizer auch durch Gestik und Körpersprache nicht. Statt Aufmunterung setzte es nicht selten Kritik nach Fehlpässen, meist in der Offensive. Dort, im letzten Drittel des Spielfeldes, wo es um Zählbares geht, zeigt sich die Klasse einer Mannschaft. Und die konnten die Schweizer weder im Spiel gegen Albanien noch in der Partie gegen Rumänien nachweisen. »Wir versuchen weiter zu zeigen, dass wir große Hoffnungen haben«, blickte Trainer Vladimir Petkovic auf das Spiel gegen Gastgeber Frankreich. Es könnte die letzte Möglichkeit bei dieser EM sein.

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