England hört das Gras wachsen
Dem englischen Team soll die Zukunft gehören - die Gegenwart ist aber auch schon ganz gut
Die englische Mannschaft war schon lange in der Kabine verschwunden, da drehten die Slowaken noch immer ihre Ehrenrunde im Stade Geoffroy Guichard. Spieler und Fans feierten den Abschluss ihrer ersten Gruppenphase bei einer Fußball-Europameisterschaft. Und die Debütanten konnten ja noch hoffen: Mit vier Punkten ist die Slowakei in der Gruppe B Dritter, hinter Wales und England, vor Russland. Die Chancen, als einer der besten vier Gruppendritten das Achtelfinale zu erreichen, waren so schlecht nicht. »Einen Punkt gegen die Engländer zu holen, ist der größte Erfolg«, freute sich Trainer Jan Kozak überschwänglich. Und das torlose Remis am Montagabend in Saint-Etienne stellte sich schon am Dienstag als wertvoll heraus: Durch den Sieg der DFB-Elf gegen Nordirland haben sich die Slowaken für die nächste Runde qualifiziert.
Englands Spieler kamen nochmal zurück auf den Rasen. Auslaufen. Das taten sie relativ gut gelaunt. Mit der harten Analyse hatte Roy Hodgson die Mannschaft wohl noch verschont. In den Katakomben des Stadions wurde der englische Nationaltrainer jedenfalls deutlich: »Es ist frustrierend und enttäuschend«, beklagte er die mangelnde Chancenverwertung: »Ich war eigentlich der Meinung, dass wir genügend Spieler besitzen, die ein Tor schießen können.«
Die englischen Fans hatten zu diesem Zeitpunkt schon längst die Bars in Saint-Etienne erorbert. Diesmal friedlich, wie auch zuvor im Stadion. In beeindruckender Lautstärke hatten sie ihre Mannschaft 90 Minuten lang unterstützt. Dabei machten sie auf der Tribüne, rund ums Stadion und später in der Stadt aber eher den Eindruck, eine Party zu feiern – mehr oder minder unabhängig vom Abschneiden ihrer Nationalelf.
Ob nun die Ernüchterung des Trainers oder die gewachsene Gleichgültigkeit der Anhänger: Eine Rechtfertigung für missratene Auftritte bei der EM die gleichsam als Euphoriebremse taugt, hatte ausgerechnet Englands Verbandsboss Greg Dyke vor dem Turnier verbreitet. »Ich glaube, wir haben eine gute Chance, uns zu entwickeln und 2022 zu gewinnen – das ist das Ziel.« Der WM-Sieg in sechs Jahren soll es werden. Dem aktuellen Kader traut der Dyke anscheinend nicht sehr viel zu. Selbst ein Viertelfinalaus würde ihn nicht besonders ärgern – aber nur »wenn wir wirklich gut gespielt haben und auf eine der besten Mannschaften treffen.«
Vielleicht hofft Dyke ja insgeheim auf eine Überraschung und stapelt vorher tief. Denn Skepsis ist beim Blick auf das englische Team eigentlich gar nicht angebracht. Mit einem Durchschnittsalter von 25 Jahren ist es das jüngste bei dieser Europameisterschaft. Und es ist seit langem mal wieder eine englische Mannschaft, die sehr ausgewogen besetzt ist.
Trainer Roy Hodgson hat gleich auf mehreren Positionen eine große Auswahl talentierter Spieler. Im Sturmzentrum bekam gegen die Slowakei diesmal Jamie Vardy den Vorzug vor Harry Kane. Zumindest in den ersten 45 Minuten rechtfertigte der 29-Jährige von Überraschungsmeister Leicester City das Vertrauen: Vardy erarbeitete sich Chancen, setzte seine Mitspieler gut ein, war im Strafraum präsent, aber auch bei Kontern gefährlich. Ein Tor wie im zweiten Gruppenspiel gelang ihm aber ebenso wenig wie dem später eingewechselten Harry Kane.
Auf den offensiven Außenbahnen hat Hodgson, der sein Team meist im 4-3-3-System aufstellt, mit Daniel Sturrigde, Adam Lallana und Raheem Sterling drei schnelle, dribbelstarke und eigentlich auch torgefährliche Spieler. In der Dreierkette im Mittelfeld können Kapitän Wayne Rooney und Dele Alli die Offensive spielerisch bereichern. Eric Dier und Jordan Henderson, der gegen die Slowakei zu seinem EM-Debüt kam und gut gespielt hat, sind zweikampfstarke und passsichere Strategen, die das Spiel aus dem defensiven Mittelfeld Zentrum lenken können.
Die Abwehr ist mit Torwart Joe Hart und den beiden gesetzten Innenverteidigern Gary Cahill und Chris Smalling zumindest solide aufgestellt. Kyle Walker, Danny Rose, Nathaniel Clyne und Ryan Betrand: Auf den Außenverteidigerpositionen ist England auf beiden Seiten sehr gut besetzt. Alle vier sind schnell, technisch stark und können die Gegner auch mit ihrem Offensivdrang unter Druck setzen.
Gegen die Slowakei baute Hodgson im Vergleich zum 2:1-Sieg gegen Wales die Startelf gleich auf sechs Positionen um. Die Kritik des Trainers an der Chancenverwertung war berechtigt. Aber abgesehen davon, hat die englische Mannschaft ein gutes Spiel gemacht. Sich zehn aussichtsreiche Torchancen gegen einen Gegner zu erspielen, der manchmal gar mit allen elf Spielern im eigenen Strafraum verteidigt hat, ist nicht so einfach. Die Engländer überzeugten mit einer flexiblen Offensive: Sowohl über beide Flügel als auch durch die Mitte wurden sie gefährlich. In der Defensive mussten sie nur ein Mal zittern – nach einem Missverständnis zwischen Torwart Joe Hart und Chris Smalling.
Vielleicht muss Greg Dyke gar nicht so lange warten, bis in sechs Jahren aus der »Graswurzel«, um im Sprachbild zu bleiben, feinster englischer Rasen geworden ist. »Grassroots« – so heißt das Entwicklungsprogramm des englischen Fußballverbandes, das bis 2022 so viele gute Spieler hervorbringen soll, die dann als Mannschaft in der Lage sind, die WM zu gewinnen. Hunderte Trainer arbeiten mit dem Nachwuchs an einer neuen und einheitlichen Ausbildungs- und Spielphilosophie. Der Titel wird’s bei der EM vielleicht nicht, aber positiv überraschen kann dieses Team im weiteren Turnierverlauf schon. Für den 30-jährigen Kapitän Wayne Rooney hat schon diese Mannschaft »das Potenzial, um eine der besten zu sein, in der ich jemals gespielt habe.«
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