Nichts zu gewinnen, viel zu verlieren
Ein besseres, sozialeres Europa wird nicht in einem britischen Referendum beschlossen. Ein Brexit aber würde die schwache Linke in der EU hart treffen
Die Linken in Europa haben an diesem historischen Donnerstag nichts zu gewinnen - aber viel zu verlieren. Eine Mehrheit für den Verbleib Großbritanniens würde zunächst einmal nichts am gegenwärtigen Status quo in der Europäischen Union zum Besseren wenden. Eine Mehrheit für den Brexit aber würde die Voraussetzungen für alle Bemühungen um einen grundlegenden Kurswechsel in der EU drastisch verschlechtern.
Um nur ein Beispiel zu nennen: Würde es zu Neuverhandlungen der Beziehungen zwischen der Rest-EU und London kommen müssen, würde der Brüsseler Apparat auf absehbare Zeit im Modus von neoliberal durchwirkter Binnenmarktpolitik und Zugeständnissen an die »City« arbeiten. Und er würde unter dem Druck der Drohung rechter Kräfte auch in anderen Staaten Referenden abzuhalten, die EU noch weiter nach rechts verschieben.
Der aggressive, vor allem um Einwanderung sich drehende Wahlkampf auf den Inseln hat dort den Rassismus befeuert und in Europa anderen rechten Kräften Rückenwind für nationalistische Propaganda und eigene Austrittsträume verschafft. In einem leidenschaftlichen Appell hat der in London lebende argentinische Schriftsteller Fernando Sdrigotti deshalb die gefährlichen Illusionen der Brexit-Linken kritisiert: Eine schwache britische Linke ist »nicht darauf vorbereitet, gegen die Kräfte zu kämpfen, die von einem Brexit gestärkt würden«. Was für Großbritannien gilt, ist für die Bundesrepublik und den Rest von Europa ebenso richtig.
Richtig ist freilich auch, dass sich Illusionen über die bestehenden Chancen verbieten, bei einem »Remain« nun schnell und auf kurzem Wege zu einer anderen, besseren Europäischen Union vorzudringen. Seit dem finanzpolitischen Putsch des Austeritätsblocks in der EU gegen die SYRIZA-geführte Regierung in Griechenland steht nicht nur die Frage nach den politischen Spielräumen für linke einzelstaatliche Regierungen innerhalb eines institutionellen Geflechts, das alles andere als linken Imperativen folgt – sondern auch die Frage, wie eine europäische Linke die immer wieder beschworene »Neugründung« Europas eigentlich hinbekommen will.
Die Veränderung der Kräfteverhältnisse ist keine Frage proeuropäischer Appelle. Der europäischen Linken täte ohnehin mehr selbstkritische Reflexion gut, wenn sie einmal wieder die europäische Idee beschwört. So richtig es ist, die angeblichen »Alternativen« zu einer europäischen Integration, also den Rückzug in nationale Vorgärten in Zeiten globalisierter kapitalistischer Ökonomie, deutlich zurückzuweisen, wäre es zugleich fatal, wenn daraus der Eindruck entsteht, man halte die real existierenden europäischen Verhältnisse schon für das Erreichbare. Einmal abgesehen davon, dass man sehr schnell ganz tief im Schlamm eines standortnationalistischen »Europäismus« steht - Motto: Ohne die EU hätten die einzelnen Staaten ökonomisch keine Chance gegen andere.
Hierin lag auch ein für die Linken großes Problem während des Brexit-Wahlkampfes: Die Debatte über ökonomische Folgen eines EU-Austritts ist vor allem als eine Diskussion über standortnationalistische Vor- und Nachteile geführt worden: Was passiert mit »unseren« Konzernen, Banken und so fort? Klassenpolitische Fragen, die vom Interesse der europäischen Lohnabhängigen ausgehen, wurden zum Verschwinden gebracht: hinter »Wir«-Konstruktionen von »den Briten« oder »den Deutschen«. Mag sein, dass ein Teil der britischen Arbeiterklasse ein Brexit-Ja auch als Abrechnung mit dem System und der Regierung in London sehen möchte – aber die so denken, marschieren dabei im Gleichschritt mit denen, die seit Jahrzehnten die Gewerkschaften und die Rechte der Beschäftigten bekämpfen, deren Parole die der sozialen Spaltung ist.
Angesichts dieser Tatsache ist auch zu erkennen, dass das Bemühen um eine radikale Veränderung der europäischen Kräfteverhältnisse generell krankt: Es fehlt eine überzeugende, linke Agenda, die über bloße EU-Beschwörungen hinausgeht. Über zum Beispiel eine europäische Sozialstaatlichkeit oder die realpolitische Umsetzung globaler sozialer Rechte ist ebenso selten debattiert worden wie über die Frage einer europäischen Ökonomie, die nicht vor allem im Dienste von Kapitalfraktionen steht, die vor allem in der Bundesregierung ihre politische Vertretung sehen.
Apropos Berlin. Es ist sehr zu Recht darauf hingewiesen worden, dass ein Brexit die europäischen Kräfteverhältnisse noch weiter zugunsten Deutschlands verschieben würde, heißt: eine deutsche Hegemonie in der EU, die unter der Prämisse von neoliberaler Austerität steht, würde noch erdrückender. Eine deutsche Linke, die über den Ausgang des Referendums debattiert, kann daran nicht vorbeisehen – zumal es ihr schon im Falle Griechenlands nicht gelungen ist, politisch wirksam gegen das System Merkel-Schäuble zu intervenieren.
Ein besseres Europa ist nichts, was in einem britischen Referendum beschlossen wird. Der Weg dorthin würde im Falle eines Brexits um so viel länger, beschwerlicher werden. Sigmar Gabriel, der jetzt einige verbale Dehnübungen nach links macht, verfehlt dabei nicht immer den Punkt: Egal, wie das Referendum ausgeht, ein »Weiter so« in der EU dürfe es nicht geben. Die Frage ist, wer und auf welche Weise einen Beitrag dazu leisten kann.
Die Streiks in Frankreich, Belgien und anderswo, die anstehenden Neuwahlen in Spanien, die zarten Knospen einer Erneuerung sozialdemokratischer Parteien in Österreich und Großbritannien, die von Yanis Varoufakis ins Rollen gebrachte paneuropäische Bewegung über Ländergrenzen hinweg, die sozialen Proteste und die gelebte Solidarität mit Geflüchteten – hier liegen für die Linken die Chancen, sich Europa zurückzuholen.
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