Wie hältst Du es mit dem Brexit?

Die Linke diskutiert: Neustart in Europa, aber wie? Kipping für europaweite EU-Abstimmung / Antikapitalistischer Flügel begrüßt Ausgang des Referendums

  • Tom Strohschneider
  • Lesedauer: 9 Min.

Gibt das britische Brexit-Votum von links aus betrachtet Anlass zur Freude? Steckt gar eine Chance für eine progressive Wende darin? Oder verschlechtern das Ergebnis der Abstimmung in Großbritannien und seine Folgen nicht eher die Voraussetzungen linker europäischer Politik und stärken die Rechten? Die Debatte darüber wird auch in der Linkspartei geführt, es geht dabei nicht zuletzt um das grundsätzliche Verhältnis der Linken zur EU.

Antikapitalistische Strömung lobt das Brexit-Votum

Politiker der antikapitalistischen Strömung AKL haben die knappe britische Mehrheit für einen Austritt aus der EU jetzt als »die einzig angemessene Antwort« bezeichnet. Das Referendum sei zu »einem Fiasko für die herrschende politische Elite in der Europäischen Union geworden«, wer für den Verbleib votierte, habe nicht nur »einen schweren Fehler« begangen, so die Vorstandsmitglieder Lucy Redler und Thies Gleiss - die Befürworter des »Remain« hätten sich sogar »gemein mit der herrschenden Elite des kapitalistischen Europas« gemacht.

In der »Mitteldeutschen Zeitung« kritisierte der Bundestagsabgeordnete Stefan Liebich dies als »grotesken Unsinn«. Seiner Auffassung nach sei die Entscheidung für den Brexit ein Fehler gewesen. »Nichts wird dadurch besser. Großbritannien wird nicht sozialer. Und Europas Rechte jubeln«, so der Außenpolitiker. Das ist flügelübergreifend auch der Tenor anderer linker Reaktionen.

Bei der Emanzipatorischen Linken wird die knappe Mehrheit der Brexit-Befürworter als »überdeutlicher Sieg« der Rechtspopulisten und Rechtskonservativen gesehen. Diesen sei es »gelungen, die sozialen und gesellschaftlichen Frustrationen« auf die EU sowie auf Migranten und Geflüchtete »zu lenken«. Es sei aber »absurd«, die vielen Brexit-Stimmen aus der Arbeiterklasse als Votum gegen die durch die EU vorgegebene Austeritätspolitik zu interpretieren. Diese sei in Großbritannien seit dem Thatcher-Neoliberalismus »vor allem eines: hausgemacht«. Zudem würde ein Brexit »nichts an der Lage der britischen oder irgendeiner anderen Arbeiterklasse in der EU verbessern«. Weder werde sich die »herrschende Klasse Großbritanniens« von ihrer »rigiden-neoliberalen Austeritätspolitik« abbringen lassen, noch habe sich irgend etwas an den sozialen Kräfteverhältnissen geändert.

Auch der europapolitische Sprecher der Linksfraktion, der Abgeordnete Andrej Hunko, sieht zwar - wie viele seiner Parteikollegen - jede Menge Grund für Kritik an der EU, die Hunko als »institutionalisierten Neoliberalismus« bezeichnet. Und es mag seiner Meinung nach auch »durchaus Gründe« geben, »einem Austritt eines Landes aus der EU etwas Positives abzugewinnen«. Doch über das Brexit-Votum vermag Hunko »nicht zu jubeln«. Die rechte Hegemonie im Lager der Austritts-Befürworter sei zu groß, »zu unübersehbar sind mir aktuell die möglichen politischen Auswirkungen der Schockwellen«.

Im reformsozialistischen Lager der Linkspartei war von einem »schwarzen Tag für das Land und für die Europäische Einigung« die Rede. Die Brexit-Gegner hätten im Wahlkampf »einen entscheidenden Fehler gemacht«: Sie hätten »mit den finanziellen und wirtschaftlichen Vorzügen einer EU-Mitgliedschaft« geworben, von der »seit Jahrzehnten lediglich die oberen Zehntausend und nicht die Millionen Erwerbstätigen und sozial Ausgebeuteten« profitieren, heißt es in einer Erklärung des Vorstands der Strömung. Die EU stecke nun »in der schwersten Krise ihrer Geschichte«. In vielen Staaten habe sich das Blatt »mehr und mehr nach rechts« gewendet. »Chauvinismus, Nationalismus und in einigen Fällen gar Regionalismus feiern ihre Wiedergeburt.«

Die EU scheitern lassen – oder sie von links verändern?

Kritik wird bei den Reformsozialisten auch an der europäischen Linken laut, die sich »in der Brexit-Frage völlig orientierungslos« gezeigt habe und in der Frage gespalten ist, »ob Europa an eben zu viel oder zu wenig Europa darbt«. Wer heute aus einer linken Perspektive glaube, »aus dem Negativvotum der Briten könne in der Rest-EU etwas positiv-progressives entstehen, der irrt«, warnt man beim Forum demokratischer Sozialismus. Es sei kaum zu erwarten, dass nun »ein progressiver Prozess zur Demokratisierung der EU und ihrer Mitgliedsstaaten« in Gang komme. Man teile auch »nicht die Haltung einiger europäischer Linksparteien oder innerparteilicher Linkspartei-Gruppierungen, die das Ergebnis des Referendums in Großbritannien begrüßen und als Fortschritt begreifen«.

Auf dem sich als links ansehenden Flügel war der Brexit bereits am Freitag zum Teil als »ein Grund zur Freude« bezeichnet worden. Die arbeitende Bevölkerung Großbritanniens habe »das Referendum genutzt, um ein klares Signal auszusenden: es muss Schluss sein mit einer abgehobenen Politik für die Superreichen, Banken und Konzerne«, so eine Erklärung, die unter anderem von Linken-Vorstand Redler formuliert worden war. Auch die Linkspartei solle ihre Haltung zur EU neu debattieren - es könne »ein Bruch mit der EU nötig« sein, »weil diese nicht im Interesse der Mehrheit der Bevölkerung reformiert werden kann«.

Dagegen hatten schon am Tag nach dem Referendum die Spitzen von Linksfraktion und Linkspartei genau dies gefordert - das Brexit-Votum zeige nicht nur »die schwere Krise der EU«, das Abstimmungsergebnis habe auch »den europäischen Status Quo unumstößlich« aufgebrochen und »die historische Chance eröffnet, den Menschen in Europa ihre Stimme zurückzugeben«. Die Linksfraktionsvorsitzenden Sahra Wagenknecht und Dietmar Bartsch sowie die Parteichefs Katja Kipping und Bernd Riexinger plädieren für »einen Neustart der EU«. Es solle eine Debatte und eine Abstimmung über eine europäische Zukunft geben, »an der alle Menschen, die in Europa leben, zu beteiligen sind«.

Wagenknecht hat die Forderung nach Referenden über EU-Fragen jetzt noch einmal erneuert. Sie halte es für richtig, auch in Deutschland die Bevölkerung über wichtige Fragen wie etwa das umstrittene Freihandelsabkommen TTIP abstimmen zu lassen. »Wir wollen Europa so verändern, dass es nicht weiter zerfällt«, sagte sie der »Welt«. Über neue europäische Verträge solle dann in jedem Land abgestimmt werden. Kritik an der Brüsseler Technokratie verteidigte Wagenknecht gegen den Vorwurf, dies sei schon nationalistisch oder belege eine Gegnerschaft zur europäischen Zusammenarbeit. »Es ist die EU, so wie sie heute ist, die Ablehnung provoziert und so die europäische Idee verspielt«, so Wagenknecht.

Bartsch: »Europa der Eliten, Banken und Konzerne« überwinden

Das sieht auch Dietmar Bartsch nicht viel anders. »Es ist erschreckend, dass die schrillen Parolen rechtspopulistischer Brexit-Befürworter mehrheitsfähig wurden«, warnte er im sozialen Netzwerk Facebook - und fordert die Linke europaweit auf, »um das große europäische Projekt des Friedens, der kulturellen Vielfalt, für soziale Gerechtigkeit entschlossener« zu kämpfen. Dies sei nach dem britischen Referendum »alles andere als leichter geworden«. Doch auch Bartsch drängt darauf, »die herrschende Politik« eines »Europas der Eliten, Banken und Konzerne« zu überwinden: »hin zu einem Europa der Menschen«.

Die Frage der demokratischen Legitimation der europäischen Politik bewegt auch Linkenchefin Kipping. Sie nannte es »gut, dass alle jetzt mehr Demokratie in Europa fordern. Die Menschen müssen wieder die Wahl haben. Aber die europäische Idee ist größer als die Summe der nationalen Interessen«. Sie fordere daher »eine gemeinsame europaweite Abstimmung der Bevölkerungen in der EU«. Dabei könne es um die Frage gehen, »wollen wir weiter in einer EU der Eliten und der Ungerechtigkeit leben, oder wählen wir eine neue Europäische Union der sozialen Garantien und der umfassenden Freiheitsrechte?«

Die Debatte in der Linkspartei läuft freilich nicht in einem luftleeren Raum. Auf europäischen Parkett werden längst Leitplanken für neue Kräfteverhältnisse innerhalb der EU aufgestellt. Politische Vorstöße sollen Ideen wie die eines »Kerneuropas« neu beleben, es wird über flexiblere Regeln innerhalb der Union gesprochen - dies aber vor allem aus einer Perspektive des neoliberalen Status quo. Derweil vertieft sich der europapolitisch Riss in der Großen Koalition, vordergründig in der Frage der Geschwindigkeit, in der nun das Austrittsverfahren Großbritanniens ablaufen soll - in Wahrheit geht es aber auch hier um europapolitische Grundfragen. Die SPD hat die Zeichen der Zeit auch erkannt und ist bereits mit einem Papier des Vorsitzenden Sigmar Gabriel und von EU-Parlamentspräsident Martin Schulz vorgeprescht.

Merkel fördert Nationalismus und Rechtspopulismus

Linkenchef Bernd Riexinger hat die Merkelsche Grundlinie deutlich kritisiert. Die europäische Vision der Kanzlerin sei eine EU der »Wettbewerbsfähigkeit« - das laufe auf den »Kampf aller gegen alle mit dem Ergebnis von Massenerwerbslosigkeit in Südeuropa und prekären Zukunftsperspektiven in ganz Europa« hinaus. Merkels Europapolitik sei »eine der Hauptursachen für den Aufstieg von Nationalismus und Rechtspopulismus«. Doch nicht nur dagegen solle die Linkspartei sich engagieren, sondern auch »gegen die Interessen der wirtschaftlichen und politischen Elite in der EU«. Es gehe jetzt eben »nicht darum, wie schnell der Austritt Großbritannien aus der EU umgesetzt wird, sondern welche Konsequenzen aus dem Brexit für die zukünftige Ausrichtung der EU gezogen werden«.

Riexinger hat dazu am Montag fünf konkrete Maßnahmen vorgeschlagen, darunter ein EU-weites Investitionsprogramm in Höhe von 100 Milliarden Euro jährlich für die soziale Daseinsfürsorge. Das wird auch vom wirtschaftspolitischen Sprecher der Bundestagsfraktion, Michael Schlecht, unterstützt. »Die ohnehin instabile wirtschaftliche Lage in Europa droht zusammenzubrechen«, sorgt der sich um die ökonomischen Folgen eines Brexits. »Deutschland droht Stagnation, auch eine Rezession ist nicht auszuschließen«, so Schlecht - der deshalb auf einen »Schutzschirm für Beschäftigte« drängt. Entscheidend sei jetzt, »dass massiv die Konjunktur stützende Maßnahmen eingeleitet werden«.

Sein Fraktionskollege Klaus Ernst sieht noch einen anderen Ansatzpunkt für eine Wende in Europa: Er forderte nach dem Brexit-Referendum, die umstrittenen Freihandelsabkommen CETA und TTIP zu stoppen. »Dies wäre ein dringend notwendiges Signal, dass man die Zeichen der Zeit erkannt hat«, so Ernst mit Blick auf »die Skepsis der Menschen gegenüber der EU«. Viele würden das Gefühl haben, »nicht gehört und berücksichtigt zu werden« - und diesem Gefühl würden die europäischen Institutionen mit ihrer Politik auch »immer wieder Nahrung« geben. Der Preis einer solchen Politik, warnt Ernst, »ist der Zerfall der EU«.

In der antikapitalistischen Strömung sieht man darin offenbar eine Hoffnung. Ein »linke Antwort auf die Krise der EU« solle »die Perspektive eines komplett alternativen, sozialistischen Europas mehr ausmalen als bisher«. Fraktionsvize Ernst ist wie viele andere in der Linkspartei jedoch weit weniger optimistisch, dass sich die aktuelle Krise so leicht zu einer linken Erneuerung wenden lasse. Der Preis eines Zerfalls der EU sei »zu hoch. Gerade in diesen unruhigen Zeiten können wir das Friedensprojekt Europa nicht riskieren«.

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