Die Linke ist schuld am Aufstieg der AfD

Was der Aufstieg der Rechtsaußen-Partei mit der Kanzlerschaft von Merkel und der Krise von Rot-Rot-Grün zu tun hat. Ein Debattenbeitrag von Alban Werner

  • Alban Werner
  • Lesedauer: 14 Min.

»An wem liegt es, wenn die Unterdrückung bleibt? An uns.
An wem liegt es, wenn sie zerbrochen wird?
Ebenfalls an uns.«
(Bertolt Brecht, Lob der Dialektik)

Ja, die Überschrift ist völlig ernst gemeint. Die politische Linke ist verantwortlich und – wenn man die negative Beurteilung dieser Partei teilt – schuld am Aufstieg der rechtspopulistischen AfD. ›Politische Linke‹ meint hier alle Parteien links von Union und FDP, also SPD, Bündnisgrüne und LINKE gleichermaßen. Verschuldet hat die Linke den Aufstieg der AfD durch ihr aktives Tun und ebenso so sehr durch ihr Unterlassen.

Zwar erlebt die AfD anhand des Skandals um ihren (Ex-)Landtagsabgeordneten Wolfgang Gedeon aus Baden-Württemberg wieder einmal eine Belastungsprobe. Und zeigt der Skandal, der sich anhand antisemitischer Schriften des Abgeordneten entzündete, welche politische Unkultur die AfD intern aufweist. Trotzdem wäre es ein grober Irrtum, auf ein Ende der AfD durch Selbstzerstörung zu hoffen. Stattdessen sollte die politische Linke nach den Triebkräften fragen, die der AfD inzwischen zwei Mal zum Aufstieg verholfen haben. Die AfD erlebte ihren ersten Aufschwung ab der Bundestagswahl 2013, den zweiten durch die Politisierung der sog. ›Flüchtlingskrise‹ ab September 2015.

Meine These lautet, dass es zur Gründung der AfD nicht gekommen wäre, hätten sich die linken Parteien ab 2005 in empfindlichen Punkten anders entschieden. Das Tragische ist: Wahrscheinlich hätte schon eine weniger gestörte Diskussionskultur zwischen SPD, Bündnisgrünen und LINKEN den Aufstieg der AfD verhindern können.

CDU-Vorherrschaft? Es gab andere Mehrheiten

Zur Erinnerung: Bei drei Bundestagswahlen hintereinander gab es im Bundestag eine Mehrheit links von Union und FDP (1998: 52,7%; 2002: 51,1%; 2005: 51%). Erst bei der Bundestagswahl 2009 erreichten Union und FDP die Mehrheit. Bei der Bundestagswahl 2013 schrammte die Union durch die hohe Anzahl nicht mandatswirksamer Stimmen (15,7%) mit ihrem für heutige Verhältnisse rekordverdächtigen Ergebnis nur knapp an der absoluten Mehrheit vorbei (41,5%). Trotzdem kann man nicht von einer CDU-Vorherrschaft in Deutschland sprechen, denn auf Landesebene hat die Union zwischenzeitlich komplett verloren, was sie bis 2005 an Boden gutgemacht hatte. Im Jahr 2005 ging aufgrund erdrückender Mehrheit unionsregierter Länder das Schreckgespenst einer ›schwarzen Republik‹ um. Dieses Verhältnis hatte sich potentiell bis zum Jahr 2011 vollständig umgekehrt.

Nicht nur gab es eine rot-grüne Bundesratsmehrheit. Hätten SPD, Bündnisgrüne und Linke überall dort, wo es aufgrund der Landtagswahlergebnisse rechnerisch möglich gewesen wäre, eine Landesregierung gebildet, hätte der schwarz-gelben Bundesregierung ab 2011 eine Zwei-Drittel-Mehrheit im Bundesrat gegenübergestanden (Hessen 2008: 5 Bundesratsmandate, Thüringen 2009: 4 Mandate, Saarland 2009/12: jeweils 3 Mandate, Mecklenburg 2011: 3 Mandate , Sachsen-Anhalt 2011: 4 Mandate). Damit wiederum wäre es möglich geworden, »auch einfache Einspruchsgesetze zu blockieren, da Einsprüche der Länder im Bundestag dann ebenfalls mit einer Zweidrittelmehrheit überstimmt werden müssen. Die gesamte Gesetzgebungstätigkeit von Bundesregierung und Koalition wäre unter diesen Umständen der Vetomacht der Opposition unterstellt gewesen«, wie Benjamin-Immanuel Hoff richtig bemerkte.

Kurz: Angela Merkel hätte eine noch größere andersfarbige Übermacht der zweiten Gesetzgebungskammer gegenübergestanden, derentwegen Gerhard Schröder Mitte 2005 vorgezogene Bundestagswahlen ausgelöst hatte. Die rot-rot-grüne Uneinigkeit hat also fortwährend Angela Merkels Kanzlerschaft gerettet. Die Beliebtheitswerte von Schwarz-Gelb befanden sich bereits kurz nach der Bundestagswahl 2009 im Keller.

Merkels Krisenpolitik und die AfD

Ohne Kanzlerin Merkel hätte es aber auch keine von Union und FDP betriebene Eurokrisen-Politik gegeben, und damit keine AfD. Die AfD war in ihrer Anfangsphase zu einem erheblichen Teil Fleisch vom Fleische der Merkel-Koalition. Ihr Gründer Bernd Lucke bezeichnete sich selbst als »Christdemokrat, der von seiner Partei verlassen wurde«. Tatsächlich konnte Merkel den krisengeplagten Ländern der Eurozone die drastischen Spar- und Deregulierungsdiktate nicht ohne Zugeständnisse auferlegen. Sie machte deutliche Abstriche bei der sog. No Bail out-Klausel der EU-Verträge, gab bei den ›Rettungspaketen‹ nach und ließ die massiven geldpolitischen Interventionen der EZB gewähren. Dagegen gründeten die Ökonomie-Professoren Bernd Lucke, Joachim Starbatty und Wilhelm Hankel die AfD. Aber das taten sie erst, als sie alle anderen Mittel erschöpft hatten. Zuvor hatte Lucke noch das sog. ›Plenum der Ökonomen‹ gegründet und war die Professorenriege mehrfach vors Bundesverfassungsgericht gezogen. Noch kurz vor der AfD-Gründung hatten sie erfolglos ein Bündnis mit den ›Freien Wählern‹ versucht.

Wäre nicht die Merkel-CDU an der Regierung gewesen, sondern eine rot-rot-grüne Koalition, hätte es entsprechend auch eine andere Eurorettungspolitik gegeben. Den Unionsparteien und die FDP wäre unter diesen Umständen das Vertretungsmonopol wirtschaftsbürgerlicher und konservativer Kreise nicht so schnell streitig gemacht worden. Womöglich hätte sich eine Rollenverteilung mit unterschiedlich radikaler Ablehnung einer Mitte Links-Krisenpolitik ergeben, mit der CDU als ›guter‹ und der CSU als ›böser Bulle‹. Auch die FDP, in der ›Euro-Rebell‹ Frank Schäffler unter der Disziplin der Merkel-Koalition mit seiner Mitgliederbefragung knapp scheiterte, hätte sich anders aufgestellt. Unterm Strich hätte die Professorenriege um Bernd Lucke, für die eine neue Partei ohnehin das allerletzte Mittel war, keinerlei Grund gehabt, den Rubikon zu überschreiten und die AfD zu gründen.

Ohne die Bereitschaft dieser Leitfiguren aber hätte es die AfD überhaupt nicht gegeben. Neue Parteien benötigen meistens bekannte und im Idealfall inspirierende Leitfiguren. Sie signalisieren potentiellen AnhängerInnen, dass es sich nicht um ein unvernünftiges Abenteuer handelt, bei dem man durch Teilnahme seinen guten Ruf riskiert. Bei Neugründungen rechts von Union und FDP liegt die Hemmschwelle durch die Stigmatisierungspolitik gegenüber rechtsradikalen Organisationen noch höher. Schon Lucke, Starbatty, Hans-Olaf Henkel und Co. konnten nur eine begrenzte Anzahl von AktivistInnen aus dem ›bürgerlichen Lager‹ anziehen, viele hielten sich bedeckt und blieben zähneknirschend bei CDU oder FDP. Ein Abspaltungsversuch von Leuten mit noch weniger ›street credibility‹ als den AfD-Gründern wäre komplett versandet, so wie im Jahr zuvor die rechte Parteigründung ›DIE FREIHEIT‹.

AfD: Gründung, Spaltung, Rechtsentwicklung

Zwar war bereits bei Bundestagswahl 2013 für die meisten AfD-WählerInnen die Zuwanderungspolitik als Wahlmotiv entscheidend, nicht die Eurokritik. Aber eine Nachfrage nach einer bestimmten Politik schafft noch lange keine Angebot, andernfalls hätte es eine erfolgreiche Partei rechts von Union und FDP schon seit Jahrzehnten geben müssen. Nach der Spaltung der AfD Mitte 2015 dominieren andere rechte Strömungen und Personen die Partei. Diese Strömungen, wie die ›neue Rechte‹ um Götz Kubitschek und Björn Höcke, die Nationalkonservativen um Alexander Gauland oder ›freie Radikale‹ wie Frauke Petry konnten nie eine Partei aufbauen. Sie brauchten dazu die Professorenriege um Lucke, auf deren Bemühungen sie huckepack zur Zielgerade liefen. Das Paradoxe der AfD bestand daran, dass sie zwar von konservativ-wirtschaftsliberalen Professoren gegründet wurde, sie aber das Signal für eine explosionsartige Vernetzung und Mobilisierung im Spektrum weit rechts von Union & FDP gab, das zuvor unverbunden, verstreut und politisch unwirksam war.

Merkels Eurokrisenpolitik entfremdete die wirtschaftsliberalen Professoren radikal von der politischen Klasse. Sie senkte die in Deutschland vergleichsweise hohe Hemmschwelle zur Parteigründung, bis Bernd Lucke diesen Fehdehandschuh warf. Als er die AfD erfolgreich gründete, senkte Lucke wiederum ungewollt die Hemmschwelle für rechte Aktivitäten aller Art. So fühlten sich rechte ›Wutbürger‹ in sozialen Medien ermutigt von der AfD ermutigt (»Endlich sagt’s mal einer!«). Das wiederum senkte die Hemmschwellen für die Gründung von PEGIDA und anderer ›wutbürgerlicher‹ Zusammenschlüsse. Diese wechselseitige Enthemmungs-Kaskade beleuchtet ein weiteres Paradox. Die trotz aller stichhaltigen Kritikpunkte interessante neue Leipziger ›Mitte‹-Studie bestätigt, dass absolut betrachtet menschenfeindliche Ressentiments in Deutschland abgenommen haben. Wenn wir heute trotzdem geradezu eine Explosion menschenfeindlicher Aktionen bis hin zu Gewalttaten beobachten, dann weil die radikalisierten rechten Milieus jetzt besser vernetzt sind als je zuvor. Sie fühlen sich nicht mehr alleine, sondern wissen sich durch ein breites rechtes Publikum unterstützt, dem die AfD als Orientierungspunkt und Projektionsfläche dient.

Das bedeutet im Umkehrschluss, dass die rechten Kräfte ohne die AfD in ihrer kakophonischen Unorganisiertheit und politischen Wirkungslosigkeit verblieben wären. Die politische Subjektivität derjenigen, die heute durch die AfD angesprochen werden, würde entweder durch Union und FDP, vielleicht auch durch radikalere, erfolglose rechte Parteien (REPs, DVU, DIE FREIHEIT usw.) angesprochen oder müsste ungebunden durch den politischen Raum vagabundieren. Beim italienischen Marxisten Antonio Gramsci kann man nachlesen, dass es zur Herstellung politischer Handlungsfähigkeit einen ›Kollektivwillen‹ braucht. Dieser benötigt nicht nur eine gemeinschaftsstiftende Identität, sondern auch eine politische Vorgehensweise – ›wer sind wir?‹ und ›was wollen wir wie erreichen?‹. Um diese Fragen zu beantworten, reichen die Radikalisierungen aus den Echo-Kammern sozialer Netzwerke nicht aus. Es braucht organisierende Kräfte und Disziplin zur Erarbeitung und Verfolgung gemeinsamer Ziele. Frauke Petry, André Poggenburg, Marcus Pretzell, Björn Höcke u.v.a. aus der Führungsriege der AfD zeigen aktuell, wie sehr es ihnen an diesen Eigenschaften fehlt. Daher ist unwahrscheinlich, dass sie ohne Lucke, Starbatty & Co. überhaupt so weit gekommen wären.

Es gab Gründe, sich zusammenzuraufen

Ohne Merkels Dauerkanzlerschaft also kein gründungsnotwendiges Feindbild für die AfD, und ohne die AfD jedenfalls keine rechte APO in der aktuellen Stärke. Nun konnten die verantwortlichen Führungskräfte von SPD, Bündnisgrünen und LINKE zwischen 2005 und 2013 nicht wissen, dass ihnen die Gründung einer erfolgreichen rechtspopulistischen Partei droht, wenn sie sich nicht zusammenraufen. Aber gab es nicht auch ohne diese Aussicht genug Gründe, sich zusammenzuraufen? Ergaben nicht ihre Programme zu Landtags- und Bundestagswahlen die größten inhaltlichen Schnittmengen? Konnte sich die SPD nicht ausrechnen, dass sie absehbar nur in einer rot-rot-grünen Koalition wieder die Kanzlerschaft würde erringen können? Musste ihr nicht klar sein, dass den WählerInnen ihre mangelnde Machtperspektive auf Bundesebene auffallen musste? Gab es nicht auf Landesebene in Berlin und später Brandenburg Vorläufer sowie etliche Kooperationen auf kommunaler Ebene, ganz zu schweigen von Linkskoalitionen im europäischen Ausland? War nicht das gesamte Bündnisspektrum der drei Parteien von Gewerkschaften über attac, Wohlfahrtsverbänden und Greenpeace bis Pro Asyl einer rot-rot-grünen Koalition zugeneigt?

In diesem Artikel wird nicht nur mit Wucht nachgetreten, um den Beteiligten ein schlechtes Gewissen zu bereiten (obwohl das durchaus angebracht erscheint). Es geht vielmehr darum, in Zukunft nicht ärgerliche, leicht vermeidbare Irrtümer und groteske Fehler zu wiederholen. In der Nachschau kommt man bspw. nicht umhin, den linken AkteurInnen im historischen Vergleich eine entsetzliche Dünnhäutigkeit zu unterstellen. Willy Brandt und Herbert Wehner haben sich nach Brandts Rücktritt 1974 regelrecht gehasst. Trotzdem arbeiteten sie bis zum Ende der sozialliberalen Koalition noch acht weitere Jahre zusammen. Der Kontrast könnte nicht größer sein, wenn manche Bündnisgrüne rot-rot-grüner Zusammenarbeit mit Verweis auf »kulturelle Differenzen« eine Absage erteilten - »als würde man eine Wohngemeinschaft beziehen wollen oder im Urlaub miteinander auskommen müssen«, mokierte sich bereits 2008 darüber der Göttinger Politologe Franz Walter.

Angst vorm inneren Bruderkrieg

Auch die LINKE bekleckerte sich nicht mit Ruhm. Zu oft werden bis heute auf ihren Parteitagen diejenigen am lautesten beklatscht, die sich durch Abgrenzung von Rot-Grün profilieren wollen. Ein Jahrzehnt nach ihrer Gründung drückt sich die Partei aus Angst vorm inneren Bruderkriege noch immer darum, wie sie ihre Forderungen durchsetzen will. Bei der SPD zeigt sich, wie stark sie jedes Koordinatensystem verloren zu haben scheint. Die Ansprüche an sozialdemokratische Politik hat sie inzwischen auf ein beschämend kleines Minimum heruntergestutzt. Ihre wichtigsten Erfolge in der GroKo sind Korrekturen eigener früher Fehltritte der Agenda 2010. Der Mindestlohn oder die ›Rente mit 63‹ gehen aber nicht über das hinaus, was vor der neoliberalen Offensive von 1979ff auch christdemokratische Parteien ihren WählerInnen angeboten haben. Bemerkenswert sind die Verrenkungen, die zur Sowohl-als-auch-Haltung bei CETA und TTIP angestellt werden. Die jetzige SPD stellt sich keine Aufgaben mehr, für die sie mit vollster Überzeugung kämpfen kann. Selbst von der Titelseite der bürgerlichen FAZ wird Sigmar Gabriels SPD mittlerweile bemitleidet und aufgefordert, nun endlich Butter bei die Fische zu machen. »Spätestens in einem Jahr werden weder Linke noch Grüne, schon gar nicht die SPD wieder einmal erklären können, dass es ›unmöglich‹ sei, eine solche Linkskoalition zu bilden. Es wäre ein lächerliches Ausweichen. Wer ständig links blinkt, sollte irgendwann auch mal abbiegen – nach links.«

Mit diesen Ausführungen soll nicht einem rot-rot-grünen Bündnis um jeden Preis das Wort geredet werden. Entscheidend ist, dass ein wirklicher Politikwechsel in diesen Farben mandatsrechnerisch und hinsichtlich der Umfragewerte zu seinen Inhalten schon lange möglich war. Michael Brie liegt richtig damit, eine ›wirklich linke‹ Regierung für Deutschland zu fordern, um hier und in Europa das Ruder herumzureißen. Dafür spricht neben der inhaltlichen Stärke linker Forderungen vor allem, dass sich die Rücksichtnahme auf den politischen Gegner ohnehin nicht lohnt. Nicht nur für Deutschland, sondern global gilt, dass die demokratische Rechte sich radikalisiert hat und von überzogenen Feindbildern lebt. Barack Obama ist ein zentristischer Demokrat, mehr Bill Clinton als Bernie Sanders. Trotzdem wurde er von den Republikanern und der Tea Party von Anfang an als ›Sozialist‹ verteufelt, seine Politik sogar durch Inkaufnahme staatlicher Zahlungsunfähigkeit bekämpft. Ähnlich geifern selbst ›bürgerliche‹ AfD-Vertreter wie Jörg Meuthen gegen ein angeblich ›links-rot-grün-versifftes 68er-Deutschland‹.

Doch wenn der politische Gegner ohnehin überall linke Vorherrschaft sieht, warum dann nicht erst recht mit linker Politik ernst machen? Wenn die Union schon gegen die eingetragene Lebenspartnerschaft gegen das Bundesverfassungsgericht zieht, warum nicht gleich die ›Ehe für alle‹ einführen? Wenn schon das löchrige Tarifgitter der 2000er Jahre für Neoliberale wie Friedrich Merz eine unerträgliche sozialistische Zumutung war, warum nicht gleich eine Allgemeinverbindlichkeit von Tarifverträgen durchsetzen, die sich gewaschen hat? Wenn schon die zahme ›Reichensteuer‹ der zweiten Großen Koalition 2005 von manchen CDU-Abgeordneten als ›Folter‹ bezeichnet wurde, warum nicht gleich mindestens die Steuersätze aus Helmut Kohls Zeiten wiederherstellen?

Zaghaftigkeit der Linken als Hauptursache

Die Zaghaftigkeit der Linken ist eine der Hauptursachen für die derzeitige politische Malaise. Weil von links nichts getan wurde, um gegen die konsenssüchtige politische Kultur in Deutschland echte Alternativen anzubieten, wurde die Zeit reif für die Herausforderung von rechts. Ob Sarkozys Abschiebung von Roma, David Camerons Brexit-Referendum, die autoritäre Politik der Kaczyński-Partei in Polen und Viktor Orbáns in Ungarn, die Radikalisierung der Republikaner in den USA oder die Kumpanei konservativer Regierungen in den EU-Krisenländern mit der Troika: Überall, wo sie es kann, zieht die bürgerliche Rechte ihre radikalisierte Politik gegen eine zerstrittene, zögerliche Linke durch.

Gerade in Deutschland darf die Linke nicht noch einmal eine Chance vorbeiziehen lassen. Wenn die unterlassene Nutzung ihrer Möglichkeiten 2005-2013 Merkels katastrophale Eurokrisenpolitik und den Aufstieg der AfD zum Ergebnis hatte, was wäre dann beim nächsten Mal die Folge? Gelegenheitsfenster für linke Regierungen wachsen nun mal nicht auf den Bäumen. In der bürgerlichen Gesellschaft ist das politische Spielfeld grundsätzlich nicht zugunsten der Linken aufgestellt, zumal in der aktuellen politischen Konjunktur. Auch die Finanzkrise von 2007ff hat nicht den Rechtsruck des politischen Koordinatensystems seit Ende der 1970er Jahre korrigiert. Krisen sind eben nicht zwangsläufig die Stunden der Linken. Wo doch ein Linksrutsch oder ein neuer linker Spieler eine Chance bekam, lag es neben der Krise mindestens genauso an der Verkommenheit der politischen Elite (das gilt für Podemos in Spanien wie für Bernie Sanders in den USA, für SYRIZA in Griechenland ebenso wie für Jeremy Corbyn in Großbritannien).

In Deutschland ist die politische Elite von dieser Art Verfall noch weit entfernt. Die Aufheizung der politischen Debatte in Deutschland hat andere Wurzeln. Wieder trifft ausgerechnet die konservative FAZ ins Schwarze: »Die Polarisierung der deutschen Öffentlichkeit ist auch das Ergebnis mangelnder Gegensätze und Wahlmöglichkeiten im politischen Geschäft. Wer immer versichert, große Koalitionen seien eine Verlegenheitslösung, aber keine andere sucht, sollte sich über außerparlamentarische Radikalisierung am linken und rechten Rand nicht wundern«. Die Lektion aus dem Aufstieg der AfD an alle Kräfte links von Union und FDP lautet, dass sie beim Verschenken von Chancen auf dem Silbertablett, wie sie sich ab 2005 mehrfach darstellten, von der politischen Entwicklung aufs Schärfste bestraft werden. Aber nicht die deutsche Linke selbst, sondern die Leidtragenden der Troika-Politik, in Deutschland die Erwerbslosen und Prekarisierten sowie die Betroffenen von Asylrechtsbeschränkungen und AfD-Agitation zahlen dafür bis heute den Preis.

Alban Werner ist Politikwissenschaftler und Mitglied der Linkspartei. Er lebt in Aachen.

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