Der Dax kann nicht sterben
Die Sprache des Spätkapitalismus ist nicht nur obszön, sondern pornografisch - ehrlich
Der Dax steht auf keiner roten Liste der bedrohten Arten. Trotzdem gelten ihm mehr Sorgen als jeder bald von der Erdoberfläche verschwindenden Spezies, sobald sich auch nur in Ansätzen etwas Rotes in ihm sehen lässt – und die Erleichterung scheint riesengroß, sobald wieder alles im grünen Bereich ist. »Dax erholt sich langsam«, heißt es dann in Meldungen - wie ein vertrautes Familienmitglied, das wochenlang darniederlag und nun den Weg der Genesung antritt. Mit den besten Wünschen und einem geseufzten »Ist ja noch mal gut gegangen!«.
Was ist da eigentlich gut gegangen? Und für wen? Die Medizin – das sind steigende Kurse. Steigende Löhne und Gehälter sind aber wiederum Gift für diese. Dem eigenen finanziellen Aderlass Vieler soll also die Empathie ebenjener Vieler gelten – schließlich erholt sich der Dax ja. Der leider nicht empathiefähig ist.
Dabei hätten diese Viele jede Empathie, die der Neoliberalismus im Spätkapitalismus gleich mit jeder Romantik in einem Abwasch im geldgefluteten Bade ausgeschüttet hat, nötiger als alle in Karottenform vor ihrer Nase baumelnden Vitamine. Schließlich sind Viele bereits lange, unbewusst oder bewusst, dazu übergegangen, ihre ganze Existenz unter dem Aspekt der Nützlichkeit für den Markt zu bewerten. In einer »immer komplexeren Welt« ist schließlich »Opferbereitschaft« nötig. »Schlanker Staat« oder »Leistungsgerechtigkeit« - viel einfacher ist der vermeintlichen Freiheit in den Worten zu lauschen als zu erkennen, was sie bedeuten: Einschränkung und Zerstörung des Sozialstaatsprinzips.
Innere Leere und der Rückzug ins Private – verständlich angesichts all des »Stellenabbaus« (Arbeitsplatzvernichtung), der gestiegenen »Eigenverantwortung« (mehr Risiko für den Einzelnen) und der »leistungsbezogenen Gehaltsbestandteile« (an keine messbare Leistung gekoppelte, dafür absurd hohe Boni) in einer »marktkonformen Demokratie« (mit nicht-demokratiekonformen Marktbeherrschern).
Vielen von Vielen ist angesichts dieser Bedeutungsumkehrungen schwindlig. Einige von vielen finden sie wie die »leistungsbezogenen Gehaltsbestandteile« obszön. Die Sprache des Neoliberalismus im Spätkapitalismus kann aber mehr als zur obszönen Phrase erstarrte, von niemandem geglaubte Lüge sein. Sie kann auch ehrlich sein wie die Welt, in der sie gesendet und empfangen wird – pornografisch, sie gleicht sich nur noch selbst, ohne Sinnzusammenhang mit anderen Lebensäußerungen. In »Ausweitung der Kampfzone« hat schon Michel Houellebecq schon am Ende des letzten Jahrtausends postuliert, dass es dieser Welt an allem mangelt – außer an zusätzlicher Information. Dazu eine der vielen Meldungen vom Mittwoch: Es geht um den Unfall eines Autos mit einer Selbstfahrfunktion. Der Fahrer ist dabei gestorben. »Tesla: Todes-Crash war nicht relevant für Börse.« Und mögliche Kratzer im Kursverlauf sind relevanter als ein Menschenleben. Das ist nicht obszön, sondern wahr. Wäre mehr Empathie ein Ausweg? Der Dax könnte sie brauchen, denn die »Dax-Erholung verliert« gerade »an Schwung«. Aber am Ende geht es immer wieder »gut«.
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