Die Pflicht zu gewinnen

Portugals Sieg bei der Europameisterschaft beendet Frankreichs Flucht aus dem Alltag

Positiver Ausnahmezustand: Portugal feiert einen historischen Sieg. Negativer Ausnahmezustand: Welche Wirkung die strengen Sicherheitsmaßnahmen zur EM auf Frankreich haben, ist noch ungewiss.

Nach 51 Spielen in 31 Tagen endete am Sonntagabend die Fußball-Europameisterschaft in Frankreich. Eine Verlängerung, wie auf dem Rasen des Stade de France, wird es im Gastgeberland nicht geben - die Equipe Tricolore hat das Finale schließlich 0:1 gegen Portugal verloren. Das Feiern hat also ein Ende. Ein wirklicher Triumphzug wäre es für die Franzosen auch im Falle eines Sieges nicht geworden: »Das ist absolut unmöglich«, hatte der Pariser Polizeipräfekt Michel Cadot schon vor dem Endspiel alle EM-Feierlichkeiten auf den Champs-Élysées verboten.

Dort, wie überall in Frankreich, wird bereits der französische Nationalfeiertag vorbereitet. Bis zum 14. Juli - ein heiliges Datum der Grande Nation - verlängert das Land noch kurz die Auszeit von seinen Problemen. Arbeitskampf und Ausnahmezustand werden erst danach wieder den Alltag bestimmen. Francois Hollande weiß, was auf ihn zukommen wird und bedauert das titellose EM-Ende umso mehr: »Sport ermöglicht Vereinigung, Politik spaltet.«

Dagegen dürfte in Portugal in den kommenden Tagen ein positiver Ausnahmezustand die Normalität verdrängen. Vielleicht sogar noch etwas länger. Denn der Titelgewinn ist der erste bei einer Europa- oder Weltmeisterschaft für den portugiesischen Fußball. Absolut bedeutungslos ist es, wie er gewonnen wurde.

Dass das Finale am Sonntagabend das erste in der EM-Geschichte war, in dem nach 90 Minuten kein Tor gefallen war, lag sehr am defensiven und teilweise destruktiven Spiel der Portugiesen. In ihren sieben Turnierpartien in Frankreich gelang ihnen mit dem 2:0 im Halbfinale gegen Wales nur ein Sieg in der regulären Spielzeit. Die Gruppenphase überstand Portugal mit drei Unentschieden etwas glücklich.

Fernando Santos war die Kritik egal. »Ich möchte, dass sie genau das nach dem Finale sagen: Dass wir gewonnen haben, und dass es nicht verdient war. Das wäre wunderbar«, sagte Portugals Trainer vor dem Endspiel. Nach dem Titelgewinn fand er für das wenig kreative Spiel zumindest schönere Worte: »Wir waren einfach wie Tauben und klug wie Schlangen.« Ein Vorwurf ist dem 61-Jährigen nicht zu machen. Santos wählte die Mittel, die am besten zum Potenzial seiner Mannschaft passten. Der Erfolg gibt ihm sowieso Recht.

Kapitän Cristiano Ronaldo hielt den Pokal als erster in seinen Händen, womit sich ein Lebensziel erfüllte. »Ich habe immer davon geträumt, etwas mit Portugal zu gewinnen.« Seinem Anspruch und somit dem Recht des Besseren folgend, fügte er in entsprechender Reihenfolge hinzu: »Ich verdiene es, Portugal verdient es, die Fans verdienen es, jeder Portugiese verdient es.« Vergessen waren im Moment des Erfolgs Ronaldos Worte vom Turnierauftakt. »Sie haben gefeiert, als wären sie Europameister geworden, es war unglaublich. Dabei haben sie gar nicht erst versucht, zu spielen, sondern nur verteidigt und verteidigt. Das zeugt von kleiner Mentalität, deswegen werden sie nichts erreichen«, hatte er nach dem 1:1 im ersten Gruppenspiel über Gegner Island gesagt.

Vergessen schien auch, dass Portugal sich den größten Erfolg fast ohne Zutun seines größten Stars erspielt hatte. Nach 25 Minuten musste Cristiano Ronaldo im Finale verletzt ausgewechselt werden. Seine Aura lag trotzdem über dem Finalsieg. So berichtete beispielsweise der eingewechselte Stürmer Eder, der in der 109. Minute den einzigen Treffer erzielt hatte: »Cristiano sagte mir, dass ich das Siegtor schießen werde. Er gab mir Kraft und positive Energie.«

In Portugal wird dieser Sieg natürlich auch politisch verwertet. »Ich hatte schon vorher gesagt, dass wir die Besten in Europa sind«, erklärte der konservative Staatspräsident Marcelo Rebelo de Sousa unmittelbar nach dem Abpfiff. In Frankreich ist derlei mit der Fußball-EM nicht mehr möglich. Im Wissen um die gewinnbringende Wirkung des Bildes strahlender Sieger, hatte Francois Hollande schon vorher angekündigt, auch zu den Olympischen Spielen nach Rio den Janeiro reisen zu wollen. »Um unsere Landsleute zu unterstützen«, wie es Frankreichs Präsident formulierte. Manch anderer sieht darin eher die Flucht aus dem Alltag.

Wie wichtig Hollande eine positive Europameisterschaft war, weiß Antoine Griezmann. Der französische Offensivspieler berichtete von einem Besuch des Präsidenten bei der Mannschaft kurz vor dem Turnier. »Vor dem Spiel gegen Rumänien hat der Präsident mit uns gesprochen, auch über das Thema Sicherheit. Es war unsere Pflicht als Mannschaft, die Spiele zu gewinnen, um die Franzosen glücklich zu machen«, sagte Griezmann.

Ein Erfolg war diese Europameisterschaft zumindest kurzfristig. Die Angst vor dem Terror war zwar allgegenwärtig - auch vor dem Finale gab es eine Bombendrohung -, letztlich lief das Turnier aber weitgehend ohne Zwischenfälle ab. Für die französische Gesellschaft muss das nicht unbedingt ein Vorteil sein. Nämlich dann, wenn eine sichere EM als Argumentation für den Ausbau eines Kontroll- und Überwachungsstaates dient. Schon vor dem Turnier kritisierte Jacques Toubon den Ausnahmezustand. Frankreichs Ombudsmann für Bürgerrechte sah »eine Behördenpraxis, die allein auf Verdacht beruht« und warnte vor der »Herrschaft der Polizeiverwaltungen.«

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