Palmers Angst vor Flüchtlingen: Langweilig!
Der Grüne teilt die Ängste vieler Europäer vor Problemen in der Flüchtlingsintegration - spannende Lösungsvorschläge macht er nicht
Boris Palmer ist ein edler Kämpfer gegen Denkverbote. So inszeniert er sich zumindest gerne. Inmitten des Sommers der Migration wagte er sich ritterlich hervor und widersprach dabei sogar Mutti. »Wir schaffen das nicht«, behauptete der grüne Bürgermeister von Tübingen, und forderte Obergrenzen für Flüchtlinge, beinahe CSU-like. Jedenfalls irgendwie ungrün. Nun wagt er sich in einem »Welt«-Interview erneut in die präsommerpausliche Öffentlichkeit hinaus: Mit der trockenen Feststellung, dass die sexuellen Übergriffe von der Silvesternacht in Köln nicht stattgefunden hätten, »wenn die rund 1000 Täter gar nicht erst im Schutz einer großen Fluchtbewegung nach Deutschland gekommen wären«. Die großzügige Hilfe der Deutschen sei missbraucht worden.
Solche Äußerungen lösen Empörung aus. Das versteht Palmer wiederum nicht. Man wird das doch wohl noch sagen dürfen. »Es gibt eine Denkschule in Deutschland, die jeden voreilig mit Rassismusvorwürfen überzieht, der lediglich eine differenzierte Betrachtung in der Flüchtlingsdebatte einfordert«, beschwert sich der Grüne. »Das blockiert die Diskussion und erschwert die Suche nach Lösungen.«
Nun wird keiner verlangen, dass gedachte Meinungen nicht ausgesprochen werden dürfen. Natürlich darf Palmer das denken, und dann darf er es auch sagen. Er sollte sich nur nicht wundern, wenn jede Menge Linke verschiedener Couleur im Lande diese Diskursintervention nicht für eine sinnvolle linke Politik halten. Denn dass das Zusammenleben mit vielen neuen Nachbarn aus unterschiedlichen Kulturkreisen ein Problem für die Gesellschaft darstellen könnte: Das zu sagen, ist kein Tabubruch. Im Gegenteil. Es ist langweilig. Denn eine aktuelle Studie zeigt: Das tun die meisten Deutschen.
Pew-Umfrage: Europäer befürchten erhöhte Terrorgefahr durch Flüchtlinge
So geht aus einer aktuellen Erhebung der US-Meinungsforscher vom Pew Research Center hervor, dass zahlreiche Europäer sich vor einer erhöhten Terrorgefahr durch die hohen Zuzugszahlen fürchten. Das Zentrum befragte fast 12.000 Bürger in zehn Ländern, darunter auch Deutschland.
Demnach denken 61 Prozent der Befragten hierzulande, die massenhafte Ankunft von Flüchtlingen könnte die Terrorgefahr erhöhen. In Ungarn und Polen, die eine restriktive Flüchtlingspolitik betreiben, befürchten das sogar 76 und 71 Prozent. Die Forscher weisen in diesem Zusammenhang darauf hin, dass die »sehr deutliche Verbindung« zwischen dem Flüchtlingszuzug und der Terrorgefahr auch im Mittelpunkt der Anti-Einwanderungs-Rhetorik rechtsgerichteter Parteien stünde. Zum Vergleich: In Frankreich, wo im vergangenen Jahr bei zwei Terroranschlägen über 140 Menschen ums Leben kamen, glauben »nur« 51 Prozent an eine erhöhte Terrorgefahr aufgrund der Zuzüge. Weniger als in Deutschland, das in der jüngsten Zeit kein Ziel von Anschlägen war (zur Erinnerung: die Meldung über geplanten Terroranschläge in Düsseldorf Anfang Juni entpuppte sich bereits Anfang Juli als Schall und Rauch).
Weiterhin ergab die Umfrage, dass die Angst, Flüchtlinge könnte den alteingesessenen Europäern »Jobs und Sozialleistungen wegnehmen«, in Polen und Ungarn am stärksten ausgeprägt ist – auf dem dritten Platz folgt das durch die EU-Krisenpolitik verarmte und in der EU-Flüchtlingspolitik besonders betroffene Griechenland mit 72 Prozent. Im Krisengewinnerland ist diese Angst jedoch weniger ausgeprägt: Nur 31 Prozent befürchten, durch Flüchtlinge wirtschaftliche Nachteile zu bekommen.
Politische Reaktion auf Ängste
Dass Palmers Taktik, die Ängste der Menschen ernst zu nehmen und auszusprechen, zu mehr Vertrauen in die Flüchtlingspolitik führt, ist an diesen Zahlen nicht ablesbar. Es mag Aufgabe der Politik sein, die genannten Befürchtungen wahrzunehmen und darauf zu reagieren. Die täglichen Vergewaltigungen in Deutschland und die massenhaften Vergewaltigungen während gesellschaftlicher Events wie des Oktoberfests mit knappen Sätzen wie »Das stimmt, und das darf man auch nicht verharmlosen. Aber das ist etwas grundsätzlich anderes« beiseite zu wischen, nimmt die Ängste vieler Frauen wohl kaum ernst. Das verschärfte Sexualstrafrecht schon eher.
Doch wie sieht eine angemessene politische Reaktion auf rassistische Formen sozialer Verunsicherung aus? Die Große Koalition hat sich dazu entschieden, Flüchtlinge an den EU-Außengrenzen aufhalten zu lassen. Von dem Deal, dafür ausgesuchte, für den Arbeitsmarkt gebrauchte Flüchtlinge nach Deutschland zu holen, ist noch nicht so viel zu merken: Wie »Spiegel Online« berichtet, sind erst rund 800 Flüchtlinge seit April auf diesem Wege gekommen, geplant waren 18.000.
Von dem linken Lager erwartet man humanere und kreativere Ideen. Ein guter Vorschlag zur Finanzierung offener Grenzen zum Beispiel, zur Erlassung der Schulden Griechenlands – oder die Forderung nach Aufgabe der Schäubleschen Schwarzen Null: Das wären mal spannende Diskursinterventionen. Wagt Palmer aber nicht zu sagen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.
Vielen Dank!