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Mehr Postkolonialität wagen
Ohne die Geschichte des Kolonialismus verstehen wir die Gesellschaften nicht, in denen wir leben, meint Alex Demirović
Das scheinbar Selbstverständliche ist unselbstverständlich. Vor einigen Tagen war in den Nachrichten ein Mitglied von Reform UK zu sehen, der Partei in Großbritannien, die sich anschickt, die Konservativen abzulösen. Wie es bei Mitgliedern dieser Partei kaum anders sein kann, beklagte die Frau, dass zu viele Migranten nach Großbritannien kämen. Diese Brutalität und Unverschämtheit sind dreist. Sind nicht einige Menschen aus England frech in alle Welt gezogen und haben Länder, Menschen, Natur für sich in Anspruch genommen, Hungersnöte, Gewalt und Mord gebracht, mit Sklaven gehandelt und einheimische Industrien im globalen Süden zerstört? Waren sie nicht stolz auf ihr Imperium, in dem nie die Sonne untergeht? Der Reichtum Englands, hat er nicht mit jener Gewalt der Aneignung zu tun, mit der Verbreitung der eigenen Kultur, mit den Karrieren, die viele Männer und Familien durch koloniale Eroberung machen konnten? Die weißen Suprematist*innen würden gern so weitermachen. Die dauerhafte Krise, aus der England nicht heraus kommt, ist die Rache für die unterlassenen Veränderungen.
Alex Demirović stammt aus einer jugoslawisch-deutschen Familie; der Vater wurde von den Nazis als Zwangsarbeiter verschleppt. Wegen eines politisch motivierten Vetos des hessischen Wissenschaftsministeriums durfte Demirović in Frankfurt nicht Professor werden. Seitdem bewegt er sich an der Schnittstelle von Theorie und Politik. Jeden vierten Montag im Monat streitet er im »nd« um die Wirklichkeit.
Die CDU warf der geschäftsführenden Bundesregierung vor, dass sie als eine der letzten Amtshandlungen noch einige Dutzend Afghanen aus Pakistan nach Deutschland bringt. Ihnen wurde das versprochen, weil sie in den zwanzig Jahren, in denen deutsche Truppen in Afghanistan kämpften, eben der Bundeswehr Dienste leisteten. In Afghanistan zu leben wäre für sie lebensgefährlich – und gegenwärtig versucht Pakistan, alle Afghanen in ihr Herkunftsland abzuschieben. Deutschland schickte seine verschiedenen Truppenteile als Teil des Kriegs gegen den Terror und als Teil der sicherheitspolitischen Stabilisierung des Landes, um angeblich die Sicherheit Deutschlands am Hindukusch zu verteidigen. Das Ziel war durch US-amerikanische und deutsche Politik definiert worden. Out-of-area-Einsätze waren von den Koalitionsregierungen unter Helmut Kohl auf die Agenda gebracht worden. Die Menschen in Afghanistan wurden nicht gefragt. Truppen zur Terrorbekämpfung zu senden, erschien als eine gute Gelegenheit, die neue Strategie einmal in die Praxis umzusetzen. Ihre Schwächen wurden schnell ersichtlich: Die Waffen funktionierten nicht gut, das Beschaffungswesen der Bundeswehr war ein Desaster, klare militärische und politische Ziele fehlten. Die Afghanen nicht nach Deutschland kommen lassen zu wollen, ist der letzte Zug Verleugnung der eigenen Politik.
Irgendwohin gehen, ein Land besetzen, schießen, töten. Am 28. April werden in Italien viele Ältere, aber auch Jüngere sich des Widerstands gegen die deutsche Besatzung erinnern, die vor 80 Jahren zu Ende ging. Viele Menschen kamen bei diesem Widerstand zu Tode, andere konnten ein langes Leben lang den Krieg, die Gewalt bis heute nicht vergessen. Sie erinnern sich. Deutschland nimmt nicht Anteil daran, der Tag ist kein Tag des offiziellen Erinnerns an Verbrechen, die auch Italien zu einer Kolonie gemacht hätten.
Am 30. April jährt sich der Jahrestag des endgültigen Sieges des Vietcong über die Kolonialmächte Frankreich und USA, die das Land jahrzehntelang terrorisierten und ausplünderten. Hier wurde angeblich die Demokratie gegen den Kommunismus verteidigt. Dabei nahm die Demokratie selbst Schaden. Make America great again. Man fragt sich einmal mehr: Warum gehen Menschen im Auftrag ihrer Regierungen und im Namen irgendwelcher Werte irgendwohin, nehmen sich das Recht, in ein Land einzudringen, zu verfolgen, zu töten, anderen ihre Lebensweise aufzuzwingen? Wie kommen sie dazu?
Viele dieser Gewalt- und Kriegspraktiken ergeben sich aus dem Versuch, Kolonien zu erlangen, also Land, Menschen, Ressourcen. Die Landmasse des Planeten, die Bevölkerungen, die Meere zu beherrschen, über sie großräumig zu verfügen, die Rohstoffe und Märkte zu kontrollieren. Warum akzeptieren Menschen das? Deutschland musste die Kolonien, die es in Afrika, China, im Südpazifik hatte, nach dem Ende des Ersten Weltkriegs hergeben. Österreich verlor seine europäischen Kolonien und wurde reduziert auf ein Kerngebiet, seine Bevölkerung schrumpfte von 40 auf sechs Millionen. Vereint zielten ihre erneuten Kriegsbemühungen ab 1939 auf Weltherrschaft, die Erlangung neuer Kolonien vor allem im Osten Europas.
Die Analyse des Kolonialismus und dessen Folgen für Regionen und Gesellschaften ist Gegenstand der postkolonialen Studien. Kaum eine Region ist nicht in der einen oder anderen Weise von der historischen Kolonialität betroffen, von den Traumata der Willkür der Grenzziehungen und Trennungen von Menschen, von Eroberung und Vertreibung, von der Dominanz von Menschen, die kamen, Herrschaft ausübten, sich bereicherten und anderen Gewalt antaten, sie verschleppten oder töteten. Das gilt für die Menschengruppen, die kolonial unterworfen wurden und zum Objekt kolonialer und rassistischer Bevölkerungspolitik wurden. Es gilt aber auch für diejenigen, die über Kolonien verfügten. Das hat den Reichtum, die Gewohnheiten und den alltäglichen Konsum, die Berufsmöglichkeiten und Karriereaussichten geprägt. Die Gewaltpraktiken und -erfahrungen wurden in die kolonisierenden Herkunftsgesellschaften zurückgebracht. Fähigkeiten zur Gewalt, Kälte und rassistischer Überlegenheitswahn, Techniken der Herrschaft, Praktiken der Disziplinierung, der Bestrafung, der Folter wurden ausgebildet, überliefert, fortentwickelt, an die Machtapparate anderer Staaten weitergegeben: von Frankreich in die USA, von Deutschland nach Chile, von den USA nach Irak, von Russland nach Syrien. Gewaltexperten und Folterer wurden nicht verfolgt und bestraft, sondern ihr Expertenwissen wurde genutzt und herumgereicht – auch das eine Art epistemische Gemeinschaft.
Wenn in jüngsten Diskussionen die postkoloniale Forschung mit dem Hinweis auf einen möglichen Antisemitismus in Frage gestellt wird, wenn in den USA gar ein Angriff auf die entsprechenden Institute, Wissenschaftler*innen, die von ihnen verwendeten Begriffe stattfindet, dann wird eine Praxis des Beschweigens durchgesetzt. Denn gerade die Forschung über die postkoloniale Situation erschließt die untergründigen Linien und Gewaltschichten einer Gesellschaft. Das gilt für Deutschland ebenso wie für Peru, Brasilien oder die USA. Es gilt auch für Israel. Denn auch der Staat Israel ist Ergebnis kolonialer Praktiken auf dem Gebiet Palästinas, lange Zeit der Osmanen, dann der Briten. Juden konnten nach Palästina gehen und nach dem barbarischen Genozid, den Deutschland konzipiert und angeführt hat, ein Gemeinwesen gründen, mit dem sie sich gegen antisemitische Angriffe schützen wollten. Aber auch der Staat Israel durchläuft eine Gewaltgeschichte, die die humane Substanz der Gesellschaften bedroht und Menschen traumatisiert und die nicht aus Sorge um einen sich verbreitenden Antisemitismus beschwiegen werden darf.
Jean Améry hat vor Jahren eindringlich darauf hingewiesen: »Ich will hier erhärten, dass ich, ohne den existentiell ohnehin gültigen Vertrag mit Israel in Frage zu stellen, in der Haut eines jeden Gefolterten, und sei er ein blutbefleckter arabischer Terrorist, stecke. Die abstrakte Chiffre «Mensch» steht in meinem Wertsystem höher als der Begriff «Jude», mag ich auch dessen Konkretheiten in ihrem ganzen Schrecken erfahren haben. Und ich fordere jeden Juden, wenn er Mensch sein will, dringlich auf, mit mir in der radikalen Aburteilung der Tortur als System übereinzustimmen. Wo die Barbarei beginnt, dort muss selbst die Existenz endigen. Des Weiteren: Es ist unannehmbar für jeden, so halbwegs von der Vernunft erhellten Menschen, dass die rabbinischen Gesetze zur Grundlage einer sozialen Gemeinschaft werden, dass man aus Legenden «Geschichte» macht und aus dieser wiederum aktuell-politische Ansprüche ableitet. Die Rechtfertigung des Staates Israel kann darum auch nicht in der Berufung auf ein auch noch so würdig patiniertes, noch so bedeutendes Sagengut bestehen, vielmehr in der humanen Sendung, die von den Emanzipationsjuden verkörpert wurde und dem gleichfalls human begründbaren Anspruch, dass die Juden als freies Volk auf eigenem, freien Grund stehen.« Die humane Sendung, von der Améry spricht, ist eine, die uns allen aufgetragen ist: die Herstellung versöhnter Verhältnisse.
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