Gekränkt und zum Mord bereit
Was Amoktäter zur Gewalt veranlasst und warum Berichte darüber gravierende Nebenwirkungen haben
75 Fälle hoch expressiver, zielgerichteter Gewalt hat ein interdisziplinärer Forschungsverbund der Universität Gießen untersucht, darunter Amokläufe wie der im thüringischen Erfurt mit 16 Toten im Jahr 2002 oder der in einer Realschule im baden-württembergischen Winnenden im Jahr 2009, als ein 17-jährige Täter drei Lehrerinnen, neun Schüler und drei Passanten umbrachte, bevor er selbst von der Polizei erschossen wurde.
Junge Täter bis zum Alter von 24 Jahren, so das Fazit der Forscher, begehen eine «geplante Mehrfachtötung, weil sie als sonderbare Einzelgänger psychopathologisch auffällig sind und ein Motivbündel von Wut, Hass und Rachegedanken entwickeln». Sie seien überwiegend männlich, und zeigten narzisstische und paranoide Züge. Extrem kränkbar fühlten sie sich oft gedemütigt und schlecht behandelt – ohne, dass ihre Umwelt dies nachvollziehen kann. Sie sinnen über Rache und grandiose Morde nach, für die sie im Internet nach Vorbildern suchen. Wo sie diese auch zur Genüge finden. Teilweise werde Medienresonanz bewusst eingeplant. Die Inszenierung der Tat sowie die unrealistische Selbststilisierung als ein sich rächendes Opfer sind für die Gießener Forscher eine jugendtypische Facette der Taten.
Auch die 40 analysierten erwachsenen Amoktäter sind überwiegend männlich. Bei ihnen dominierten Psychosen in Form der paranoiden Schizophrenie oder der paranoiden Persönlichkeitsstörung. Das heißt, wie die jugendlichen Täter sind auch sie kränkbar und beleidigt. Häufiger jedoch waren sie bereits «querulatorisch auffällig», wiesen keine Empathie auf, sondern hegten eher sadistische Absichten. In Beruf und Partnerschaft sind sie bereits häufiger gescheitert und anders als bei den jugendlichen Tätern brauchen sie keine mediale Inspiration, dafür aber Drogen und Alkohol als Verstärker. «Allerdings dürften auch sie von Zeitströmungen und Medienberichten über extreme Gewalttaten inspiriert sein, heißt es im Bericht aus Gießen, denn auch der Kern ihrer Motivlage bestünde im Hass und Groll auf bestimmte Gruppen oder die Gesellschaft als Ganzes.
Muss man also davon ausgehen, dass die jetzt erschienene zweite überarbeitete Ausgabe des wöchentlich erscheinenden Magazins »Focus« mit dem Münchner Amokläufer Ali David S. auf dem Titelblatt und dem Funkprotokoll der Münchner Polizei im Inhalt des Heftes neue Gewalttaten eher fördert, als dass sie mutmaßliche Amoktäter von ihren wahnwitzigen Vorstellungen abhält? »Das Funkprotokoll zeigt auf beeindruckende Weise, wie diese Tat eine Millionenstadt lahmgelegt und in einen Ausnahmezustand versetzt hat«, begründet Focus-Chefredakteur Robert Schneider das Vorgehen der Redaktion, »aber auch, mit welcher Professionalität die Polizei diese nie da gewesene Herausforderung in München meisterte.« Spielt Schneider künftigen Amoktätern in die Hände? Würde es helfen, gar nicht mehr darüber zu berichten oder nur wenig? Doch was lässt man weg, was ist sachlich, wo beginnt die Spekulation?
Groß sind die Chancen erfolgreicher Prävention solcher Taten nicht, wie die Gießener Forscher schlussfolgern. Andeutungen würden nicht ernst genommen, Polizei und Psychiatrie nicht informiert. Selbst bei verurteilten Gewalttätern, die sich in Gewahrsam befinden, gelinge eine Abkehr vom Hass nur selten.
Vor einer verstärkten Stigmatisierung depressiv Erkrankter warnt indes Ulrich Hegerl von der Deutschen Depressionshilfe. Mit Sicherheit sei diese Erkrankung, derentwegen der Amokläufer von München in Behandlung gewesen sein soll, nicht die Ursache der Gewalttat, sagte er. »Nicht optimal behandelte Depressionen verursachen großes, unnötiges Leid und sind die Hauptursache für jährlich circa 10 000 Selbsttötungen (Suizide) und 150 000 Suizidversuche in Deutschland. Eine Zunahme der Stigmatisierung wird zu einer Zunahme der Suizide führen.« Depressive seien oft besonders verantwortungsvolle, fürsorgliche Menschen mit übertriebenen Gefühlen der eigenen Schuld.
Der Amoklauf von München war in einigen Medien fälschlicherweise als Folge einer Depression dargestellt worden. Hegerl fürchtet, dass dies für viele Depressive die Hürde erhöhe, sich professionelle Hilfe zu holen.
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