Jungfräulichkeit geht nur abstrakt
Bei »Heroes« reden migrantische Jungen übers Weinen und die Last des Ernährermodells
Sie arbeiten mit männlichen Jugendlichen aus »Ehrenkulturen«. Warum sagen Sie nicht einfach: mit muslimischen Jugendlichen?
Es betrifft einen größeren Kreis: Christliche Armenier weisen ähnliche patriarchale Familienstrukturen auf wie Muslime aus dem Nahen Osten. Das gleiche gilt für den Balkan oder ehemalige Sowjetrepubliken. In Bosnien sind diese Strukturen natürlich andere als in Katar oder Ägypten.
Auch die deutsche Gesellschaft ist patriarchal geprägt. Warum arbeiten Sie nicht mit weißen deutschen Jungen?
2007 wurden Berliner Schüler nach ihrer Einstellung gefragt. Knapp 80 Prozent der Jungen mit Migrationshintergrund fanden es abstoßend, wenn sich zwei Männer auf der Straße küssen. Bei deutschen Jungen waren es 48 Prozent. Das ist immer noch viel, man kann nicht von einer Mehrheitsgesellschaft sprechen, in der das Problem patriarchaler Strukturen gelöst wäre. Aber es gibt migrantische Communities, in denen das Problem noch stärker ist. Warum wir uns auf diese Zielgruppe konzentrieren, ist der erfahrene Rassismus. Dadurch, dass die meisten Migranten aus der Gesellschaft ausgeschlossen werden, machen nicht alle die gesellschaftliche Entwicklungen in gleichem Maße mit. Ein Ausschlussprozess einerseits, eine Selbstabkapselung andererseits.
Haben die Heroes-Mitarbeiter deshalb einen Migrationshintergrund?
Es ist wichtig, dass die Arbeit nicht von »Bio-Kartoffel-Deutschen angeblich ohne Migrationshintergrund« getragen wird, sondern von Migranten. Wir schreiben nicht vor: So habt ihr Kanaken zu leben. Wir fragen: Wie wollen wir leben? Wir können Vorbild sein und sagen: Ich bin nach wie vor Kurde, Türke, Araber, Mazedonier oder Albaner, aber ich muss kein großer Patriarch sein.
Sie haben früher für »Heroes« in Nürnberg gearbeitet. Was ist der Unterschied zu Berlin?
In Berlin gibt es jeweils arabische, türkische und deutsche Cliquen. In Nürnberg bestand ein typischer migrantischer Freundeskreis aus einem Italiener, zwei Griechen, fünf Türken und einem Deutschen. Die Gang spricht Deutsch. Es gibt hier auch eine Konzentration auf bestimmte Stadtteile. Und Strukturen, die konservatives Verhalten unter Jugendlichen fördern. Zum Beispiel habe ich beobachtet, dass alevitische Jugendliche, deren Eltern aus der Türkei kommen, in Neukölln sunnitisch aufwachsen. Die Aleviten in der Türkei sind emanzipierter als die sunnitische Mehrheit. Das trifft auf die Jugendlichen in Neukölln nicht zu.
Vor kurzem hat ein Imam einer Lehrerin aus religiösen Gründen den Handschlag verweigert, die ihm daraufhin Sexismus vorwarf. Sind Sie auch mit dieser Frage konfrontiert?
Ich habe das noch nie erlebt. Aber natürlich hat so ein Fall eine symbolische Wirkung auf Leute, die selbst nicht so weit gehen würden. Das Ganze findet aber in einem globalen Kontext statt, indem sich eine bestimmte Lesart des Islams aber auch des Rassismus breit macht. In dieser Auseinandersetzung wachsen Jugendliche hier auf und bilden ihre muslimische Identität aus.
Führen mehr geflüchtete Jugendliche in den Schulen zu stärkeren Auseinandersetzungen dieser Art?
Es gibt mehr Auseinandersetzungen. Das liegt einerseits daran, dass die Geflüchteten die Regeln, wie man sich in der Öffentlichkeit verhält, nicht so gut kennen wie Menschen, die hier aufgewachsen sind. Ein anderer Aspekt ist, dass die Gesellschaft bei Flüchtlingen stärker darauf achtet, was sie tun. Es ist aber tatsächlich so, dass ein Mensch, der in einem Dorf in Syrien aufwächst, die Welt anders kennengelernt hat als einer, der in Wedding groß geworden ist. Wer diesen Unterschied sieht, ist kein Rassist. Wer ihn nicht sieht, ist blind.
Bei »Ehrenkultur« denken viele an Ehrenmord. Reden Sie auch darüber?
Uns geht es nicht um den Ehrenmord, das ist nur die krasseste Zuspitzung der patriarchalen Unterdrückung im Namen der Ehre. In vielen Fällen kommt es nicht dazu, weil die Unterdrückten nicht den Mut aufbringen, sich zu wehren. Die Mehrheit der migrantischen Communities lehnt den Ehrenmord ab. Das Problem sind latentere Formen der Unterdrückung. Dass man seinen Kindern vorschreibt, was für eine Ausbildung sie zu machen haben.
Wollte jemand Balletttänzer werden?
Nein. Aber ein Jugendlicher wollte ein geisteswissenschaftliches Studium anfangen, eine »brotlose Kunst«. Die Familie war dagegen, weil er als Mann in der Lage sein sollte, seine Familie zu ernähren. Ich habe auch mit Jugendlichen zu tun, denen man das Weinen verboten hatte.
Und die haben dann geweint?
Zumindest einer hat ordentlich geweint. Das war eine Befreiung. Ich habe auch krasse Aussagen gehört wie: Wenn meine Schwester eine Prostituierte wäre, würde ich sie umbringen. Jungfräulichkeit ist ein großes Thema. In jeder Schulklasse hat mindestens eine Minderheit die Position vertreten, dass eine Frau Jungfrau zu bleiben hat, bis sie heiratet.
Und nach ihren Workshops sagen die Jungs: Stimmt, Frauen sollen schlafen, mit wem sie wollen?
Wir können Meinungen, die Jahrhunderte alt sind, nicht in zwei, drei Stunden aus der Welt schaffen. Wenn es aber um eine abstrakte Jungfräulichkeit geht, sind manche Jugendliche bereit, ihre Positionen zu revidieren. Ich sage oft: Ich bin 36, nicht verheiratet und habe es auch nicht vor. Meint ihr, ich soll für immer Jungfrau bleiben? Das verwirrt die Jugendlichen, denn man kann einem Menschen schlecht vorschreiben, dass er als Jungfrau sterben soll.
Sie sind aber auch ein Mann.
Offiziell gilt die Jungfräulichkeit auch für Männer. Praktisch nicht. Meine Frage führt dazu, dass sich auch die Jugendlichen Fragen stellen. Wenn wir die Jungfräulichkeit ihrer eigenen Schwester diskutieren würden, würden sie dichtmachen.
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