Das jugoslawische Projekt

Was noch zu lernen ist: Dokumentation des Editorials von Jan Rehmann der aktuellen Ausgabe der Zeitschrift »Das Argument«

  • Jan Rehmann
  • Lesedauer: 6 Min.

Die sowjetische Tragödie haben kritische Marxisten spätestens seit dem Zusammenbruch des befehlsadministrativen Sozialismus in Osteuropa analysiert. Aber wie begreifen wir die mit diesem Kollaps zeitlich zusammenfallende und doch andere Tragödie des jugoslawischen Projekts? Einige Aspekte linker Bürokratie-, Etatismus- und Autoritarismuskritik sind sicherlich auch hier anwendbar, aber sie treffen nicht den Kern des Problems, nämlich das ›marktsozialistisch‹ geförderte Auseinanderbrechen zentraler Staatsautorität in regionale Partikularismen, die enorme soziale Ungleichheiten hervortrieben und sich schließlich – angestachelt von den Westmächten, insbesondere von Deutschland – in nationalistischen Kriegen bestialisch austobten. Vor allem verfehlen sie die Spezifiken des jugoslawischen Projekts, die Gal Kirn in diesem Heft schwer übersetzbar als partisan ruptures gekennzeichnet hat.

Gemeint ist ein dreifacher Bruch der »Partisanenrevolution«: 1. Sie war die einzige erfolgreiche Bewegung in Europa, die den Faschismus und seine jugoslawischen Verbündeten aus eigener Kraft besiegte und eine eigenständige sozialistische Revolution herbeiführte; 2. sie etablierte nach dem Bruch mit Stalin ein System der Selbstverwaltung, das gegen das sowjetische Modell des staatsmonopolistischen Sozialismus eine unmittelbare Produzentendemokratie zu verwirklichen suchte; 3. sie äußerte sich in einer anti-imperialistischen Orientierung, die Jugoslawien zur führenden Kraft in der Bewegung der Blockfreien werden ließ.

Mag die Einführung der Selbstverwaltung 1949 auch pragmatische Gründe gehabt haben, wie Krešimir Zovak in diesem Heft betont, war sie doch in der marxschen Perspektive eines »Absterbens des Staates« konzipiert, das Stück für Stück in der Gegenwart realisiert werden sollte. Auch die führende Rolle der KP würde im Laufe der Entwicklung »der unmittelbaren sozialistischen Demokratie […] allmählich verschwinden«, hieß es selbstbewusst im Programm des Bunds der Kommunisten Jugoslawiens 1958. Richtschnur war die im Kommunistischen Manifest angezielte »Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist« (MEW 4, 482). Von dort her ließ sich in den Schriften marxistischer Theoretiker eine kräftige und durchgängige Selbstvergesellschaftungs-Linie direkter Arbeiter- und Rätedemokratie rekonstruieren – bis hin zu Lenin, bei dem allerdings das Vertrauen auf proletarische Selbsttätigkeit eine widersprüchliche Verbindung mit einem ihr diametral entgegengesetzten »Ultrazentralismus« einging, der die Tendenz aufwies, das politische Leben zu »erdrücken« (Rosa Luxemburg, GW 4, 361f.).

Freilich präsentieren uns die viel proklamierten Klassikerpassagen ein rosiges Bild, dem die Selbstverwaltung im halb-peripheren Jugoslawien kaum entsprechen konnte. In Wirklichkeit war sie von scharfen Widersprüchen durchzogen. Konzipiert in der Perspektive eines »Absterbens des Staats«, wurde sie vom jugoslawischen Zentralstaat implementiert, und dies durchaus auch »von oben« und zuweilen autoritär.

Wie Ankica Čakardić in diesem Heft berichtet, konnten über die Hälfte der in den 1970er Jahren befragten Frauen in der Selbstverwaltung nichts Vorteilhaftes für sich erkennen. Umgeben von einem Markt, der zudem vom westlichen Ausland dominiert war, richteten sich die selbstverwalteten Betriebe nicht nur gegen eine entfremdete Vergesellschaftungsform, sondern operierten auch in ihr: Die im Inneren reproduzierten Imperative des kapitalistischen Markts erzeugten einen Standortegoismus gegenüber konkurrierenden Selbstverwaltungsbetrieben, mangelnde Solidarität gegenüber anderen Segmenten der Arbeiterklasse, v. a. gegenüber der wachsenden Zahl der Erwerbslosen. Es sei denn, die Marktgesetze können durch eine effektive gesamtgesellschaftliche Planung eingeschränkt und reguliert werden. Dies ist in den boomenden 1950er Jahren weitgehend gelungen, wurde dann aber ab Mitte der 1960er Jahre im Gefolge der Marktreformen Stück für Stück preisgegeben.

Als die siegreiche liberale Fraktion den Allgemeinen Investitionsfond aulöste, wurde die bundesstaatliche Umverteilung der Ressourcen von den reicheren auf die ärmeren Teilstaaten ausgehebelt. Zusammen mit der wachsenden Arbeitslosigkeit explodierten die regionalen Ungleichheiten, bis Anfang der 1980er Jahre der Unterschied im Bruttoinlandsprodukt zwischen Slowenien und dem Kosovo ungefähr dem zwischen Großbritannien und Algerien entsprach. Die Eliten und technokratischen Fraktionen der Teilstaaten wandten sich gegen die sozialistische Umverteilungspolitik der Bundesregierung. Unterstützt wurden sie weitgehend auch von den Arbeitern der selbstverwalteten Betriebe, die somit zur Restauration des Kapitalismus beitrugen, in deren Peripherie die geschwächten post-jugoslawischen Teilstaaten einrückten.

Unsere Zeitschrift hat das jugoslawische Projekt über viele Jahre solidarisch und kritisch begleitet. So sah Jean Marie Vincent 1962 die jugoslawische Selbstverwaltung als beispielhaft, weil sie die »Haltung der Menschen zueinander« veränderte, und interpretierte die Entstalinisierungsversuche in der Sowjetunion dahingehend, dass sie einen jugoslawischen Weg in den sozialistischen Staaten eröffneten (Argument Heft 21, 47).

Die Hoffnung führt leicht Illusionen mit sich, aber im Nachhinein ist es immer leicht, es »besser« zu wissen. »Gibt es einen jugoslawischen Sozialismus?«, fragte dagegen Hansgeorg Conert 1973/4 – eine Frage, die er verneinte: die Produktionsverhältnisse seien »anarchosyndikalistisch«, begleitet von zunehmenden privatkapitalistischen Restaurationstendenzen (Argument Heft 82, 742f); Ursula Rütten beobachtete 1980 eine weitverbreitete Unlust der Arbeiter und Intellektuellen, sich aktiv in den selbstverwalteten Strukturen zu beteiligen (Argument Heft 120, 218).

Ein Argument-Sonderband dokumentiert 1981 die Diskussionen auf der internationalen Konferenz in Cavtat zu Selbstverwaltungsmodellen weltweit (AS 61). Michel Chossudovsky analysierte 1999 den Zerfall Jugoslawiens und erklärte ihn mit den in den 1980er Jahren von den westlichen Kreditgebern aufoktroyierten Austeritätsmaßnahmen, die den Weg für die Rekolonisierung des Balkans ebneten (Argument Heft 231, 564). »Das frühere Jugoslawien wurde unter der scharfen Kontrolle ausländischer Kreditgeber zerstückelt und seine Auslandsschulden unter den verschiedenen Nachfolgestaaten aufgeteilt.« (565)

Ist das sozialistische Jugoslawien Vergangenheit, so ist es doch eine »unabgegoltene«, wie wir mit Ernst Bloch sagen können. Seine Selbstverwaltung ist bedeutsam für alle sozialen Bewegungen, die über Defensivkämpfe hinaus eine konkrete Utopie entwickeln und sich weder mit systemkonformen Reformen noch mit kommunistischen Endzeitvisionen abspeisen lassen wollen. Lucien Goldmann zufolge kam die Selbstverwaltung in Frankreich 1968 von den Büchern auf die Straße. Von dort musste sie freilich noch in konkrete Unternehmens- und Gemeindestrukturen übersetzt werden. Die im Baskenland von einem katholischen Priester gegründete Mondragón Corporación Cooperativa (MCC) wurde zur größten Produktiv-Genossenschaft der Welt. Das Verhältnis zwischen den höchsten und niedrigsten Gehältern im Durchschnitt beträgt ungefähr 5 zu 1, gegenüber ca. 475 zu 1 in US-Großbetrieben.

Kommunale Aspekte der Selbstverwaltung dienten wiederum als Inspiration für die zunächst unter Federführung der brasilianischen Arbeiterpartei in Porto Alegre und anderen Städten eingeführten Projekte des Bürgerhaushalts (participatory budgeting). Unter kapitalistischen Herrschaftsverhältnissen ist der Handlungsspielraum dieser Initiativen begrenzt, die eingegangen Kompromisse drohen ihren Anspruch als Alternativprojekte immer wieder zu unterminieren. Nur selten entgehen sie dem Dilemma, sich vom selbst gestellten Auftrag einer sozialistischen Gesellschaftsveränderung zu entfernen und die Verbindung zu den Gewerkschaften und zur politischen Arbeiterbewegung zu verlieren.

Aus der Kritik des Sowjetsystems konnte man lernen, dass die Proklamation eines »Absterbens des Staates« ins Gegenteil einer terroristischen Staatsherrschaft umschlägt, wenn sie nicht mit einer demokratisch-sozialistischen Transformation des Staates verbunden ist, die den Umbau des parlamentarischen Systems mit dem Aufbau einer basisdemokratischen Selbstverwaltung von unten kombiniert. Ohne demokratische Partizipation läuft auch eine zentrale Wirtschaftsplanung Gefahr, Subalternität festzuschreiben und im Leerlauf zu rotieren.

Aus dem Scheitern des jugoslawischen Projekts können wir ergänzend schlussfolgern, dass eine Selbstverwaltung der einzelnen Betriebe und Kommunen noch keineswegs bedeutet, dass die assoziierten Arbeiter die gesellschaftlichen Bedingungen der Produktion und Reproduktion kontrollieren. Ohne Einbindung in eine gesamtgesellschaftliche Planung tendieren sie dazu, ihre korporatistischen Egoismen durchzusetzen und damit ihre eigene Unterordnung unter die marktbedingten Fragmentierungen selbsttätig-selbstverwaltend zu organisieren. Mit dem staatlichen Wirtschaftsplan steht sogleich das Problem seiner demokratischen Kontrolle und Gestaltung auf der Tagesordnung.

Wie konkret die Verbindung von Betriebsdemokratie, gesamtgesellschaftlicher Planung und deren demokratischer Kontrolle organisiert wird, welche Bedeutung den neuen Informationstechnologien bei einem flexiblen Gesamtplan zukommt bzw. welche Rolle Marktmechanismen bei der Allokation von Ressourcen und Gütern spielen können und sollen – all dies gehört zum magischen Würfel einer hegemoniefähigen demokratisch-sozialistischen Transformationsstrategie.

Mehr Informationen zum Heft und Bezugsmöglichkeiten gibt es hier.

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