Das freundliche Monster Fortschritt

Tom Strohschneider über Pokémon Go, die Befreiungspotenziale neuer Technik und das gesellschaftliche Ringen darum

  • Tom Strohschneider
  • Lesedauer: 3 Min.

Würde man eine Umfrage starten, was die Leute mit Pokémon Go in Verbindung bringen, es käme zweifellos eine lange Liste der Risiken heraus. Ist das Onlinespiel mit den kleinen Monstern nicht zuvörderst eine schlimme Datenschutzgefahr? Führt der stiere Blick der Spieler auf ihre Handheld-Mobilgeräte nicht in einen Moloch der Verkehrsunsicherheit? Darf man es zulassen, dass virtuelle Figuren aus kapitalistischen Fantasiewelten echte historische, sensible Orte bevölkern? Und überhaupt: Lenkt das Aufspüren, Trainieren und der Kampf der ausgedachten Figuren nicht von Wichtigerem in der »echten« Welt ab?

Die Berichterstattung über das Spiel ist von Meldungen über Unfälle, über die Überwachungspotenziale der Nutzung realer Geodaten und Pokémonverbote etwa im Volkswagen-Konzern geprägt. Hinzu kommt: Sich über monsterspielende Menschen aufzuregen, setzt nicht die geringste eigene Kenntnis des Spiels oder der Technik voraus. Jeder darf den Zeigefinger heben. Es wird viel Gebrauch davon gemacht.

Nun ist gegen den kritischen Blick auf technologische Neuerungen oder marketinggetriebene Verkaufshypes ganz und gar nichts einzuwenden. Die Frage ist, ob sich die Linke auf den Blick durch die kulturpessimistische und technikskeptische Brille beschränken darf. Dieser Eindruck entsteht derzeit nämlich - und nicht nur deshalb, weil die Bemühungen um das politische Einhegen von Fortschrittsergebnissen, deren gesellschaftliche Anwendung kapitalistischen oder sicherheitspolitischen Imperativen folgt, der Job der kritischen Opposition ist.

So richtig es ist, über »solidarische Perspektiven gegen den technologischen Zugriff« zu diskutieren, wie es im Herbst eine Konferenz in Köln verspricht, so sehr scheint die Linke zu vergessen, darüber zu reden, wie die emanzipatorischen Potenziale neuer Technik »befreit« werden könnten. Weniger schwere, gefährliche Arbeit und mehr gesellschaftliche, demokratische Planungsmöglichkeiten wären drin, um nur zwei Beispiele zu nennen.

Zurzeit steckt die Entwicklung der Technologien, ihrer Anwendung und Verbreitung in einer Übergangsphase. Vom Autonomen Fahren über die Künstliche Intelligenz bis zur »Substanz« von Pokémon Go - das Prinzip der »augmented reality«, also die computergestützte Erweiterung der Realität -; wir sehen überall rasante Fortschritte und keineswegs alles, was dabei »herauskommt«, ist fortschrittlich. Ob die durch die explosionsartige Ausbreitung von Pokémon Go auch schnell mitwachsende Alltagstauglichkeit von Datenbrillen, die sich desselben Prinzips bedienen, zu etwas Gutem führt, hängt davon ab, wer die gesellschaftlichen Konflikte darum gewinnt.

Von der Jagd auf die quietschbunten virtuellen Monster führt eine Brücke zum Einsatz von virtueller, gemischter oder erweiterter Realität in Bildung, Produktion und Dienstleistungssektor. Logistiker lassen ihre Beschäftigten mit Datenbrillen arbeiten. Demnächst wird man auch Postboten damit antreffen. Ein Hamburger Projekt erforscht derzeit, wie Fachkräfte und Angehörige bei der häuslichen Intensivpflege unterstützt werden können. Datenbrillen machen den technischen Kundendienst einfacher, schneller und umweltfreundlicher, weil Experten nicht extra um die halbe Welt fliegen müssen. Blinden kann die Möglichkeit gegeben werden, sich in der Welt zu orientieren und Informationen über das zu erhalten, was sie sonst nicht sehen könnten. Und so weiter.

Natürlich: Das ist noch lange kein Grund für ungetrübten Technikoptimismus, der das Denken der frühen Arbeiterbewegung dominierte und nicht zuletzt im Realsozialismus in eine auf die Steigerung der Produktivität ausgerichtete, verengte Politik mündete. Die befreite Gesellschaft besteht eben nicht nur aus »Sowjetmacht plus Elektrifizierung«.

Wenn die Linken aber vor lauter ökologischen, datenschutzrechtlichen und anderen Bedenken die Möglichkeiten nicht mehr erkennen, die in einer anderen gesellschaftlichen Anwendung neuer Technologien stecken, dann verschwinden sie im Schützengraben einer als besser gedachten Vergangenheit - statt um die neuen Regeln der Zukunft zu ringen. Das hilft weder den Abermillionen, die Pokémon Go spielen oder als abhängig Beschäftigte mit neuen Technologien zu tun haben, noch den Abermillionen, denen eine Teilhabe sogar an fröhlichem Unfug wie einer Monsterjagd in der Zwischenwelt von Realität und Fantasie durch die sozialen Barrieren der herrschenden Verhältnisse verweigert wird.

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
- Anzeige -

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.