Die »unvollendete Revolution«

Vor 25 Jahren etablierte sich in Moskau ein »Staatskomitee für den Ausnahmezustand« - für wenige Tage

  • Elke Windisch, Moskau
  • Lesedauer: 5 Min.

»Ausschlafen, ein kühles Bier und frische Wäsche. Vor allem Socken«. Das seien - genau in dieser Rangfolge die Gedanken gewesen, die ihm im August 1991 immer wieder durch den Kopf gingen, sagt Maxim Sokolow (Name von der Redaktion geändert). Mindestens 48 Stunden am Stück habe er nicht geschlafen. Von der Arbeit sei er abends immer gleich los zum Barrikadenbau im Zentrum von Moskau, morgens in umgekehrter Richtung.

Vor genau 25 Jahren wollten Altstalinisten Perestroika und Glasnost - Umbau der Gesellschaft und Transparenz - rückgängig machen und die Unterzeichnung eines neuen Unionsvertrages verhindern. Er sollte den fünfzehn Sowjetrepubliken mehr Macht einräumen. Michail Gorbatschow wollte die Fliehkräfte stoppen, die an dem durch niedrige Ölpreise und den Afghanistankrieg schon bedenklich schwankenden Imperium zerrten.

In der Nacht zum 19. August zogen Gorbatschows Widersacher im Politbüro die Reißleine, verhängten den Notstand, internierten Gorbatschow in dessen Urlaubsdomizil auf der Krim und ernannten UdSSR-Vizepräsident Gennadi Janajew zum Interimsstaatschef. Sokolow erfährt es, als er morgens in der Küche Teewasser aufsetzt und das Radio anschaltet.

Die Schockstarre währte nicht lange, sagt er. Irgendwie sei er sogar erleichtert gewesen. »Es lag seit langem etwas in der Luft. Wir wussten nur nicht, wann der Blitz einschlagen würde. Jetzt hatte er eingeschlagen.«

Demonstrationen und Meetings - seit die Kommunistische Partei auf ihr Machtmonopol verzichtet hat, Breitensport in den Großstädten - sind nun wieder verboten. Margarita, Sokolows Ehefrau, macht sich dennoch auf den Weg zum Moskauer Weißen Haus, dem Sitz der russischen Regierung. Ihr steht seit gut einem Jahr Boris Jelzin vor. Anders als Gorbatschow will er den Sozialismus nicht reformieren, sondern abschaffen. Tausende bilden bereits einen lebenden Ring um das Weiße Haus, als Margarita auf dem Platz davor eintrifft. Abends kommt auch Maxim. »Solche wie wir hatten bereits etwas zu verlieren«, sagt er.

Die Sokolows - beide damals Anfang dreißig und Elektronik-Ingenieure - hatten eine kleine IT-Firma. Eine der ersten in Moskau. Die Digitalisierung lernte gerade laufen. Mobiltelefone hießen noch Autotelefone und waren fünf Kilo schwer, das Internet hielt Iwan Normalverbraucher für einen global vernetzten Ganovenring. Doch Computer-Notdienst rund um die Uhr wie ihn die Sokolows anboten, war bereits gefragt. Maxim betreute auch ein Intranet - einen Vorläufer des Web, über den Auslandskorrespondenten ihre Berichte an die Heimatredaktionen schickten. »Es dauerte oft ewig«, sagt Maxim, »funktionierte aber. Trotz Notstand«. Der KGB, der sowjetische Geheimdienst, dessen Chef Mitglied des Notstandskomitees war, habe von der Existenz des Intranets offenbar nichts gewusst.

Trübe bricht der 20. August an. Die Spannung auf dem Platz vor dem Weißen Haus steigt. Gerüchte von Eliteeinheiten, die von den Putschisten nach Moskau beordert worden seien, machen die Runde. Es sind nicht nur Gerüchte. Panzer rollen auf den Platz vor dem Weißen Haus, wo sich inzwischen mehr als 200 000 Moskauer drängen. Jelzin, ein Megafon in der Hand, schwingt sich auf das Führungsfahrzeug der Kolonne: »Werdet nicht zur blinden Waffe des verbrecherischen Willens von Abenteurern«, ruft er den Soldaten zu. Maxim kann ihn sehen, aber nicht hören. Doch er hat sein Transistorradio mit. »Echo Moskwy«, ein unabhängiger Sender, den es seit ein paar Monaten gibt, überträgt live.

Vor allem weil die Armeeführung den Gehorsam verweigerte, sei der Putsch nach nur drei Tagen gescheitert, glaubt Maxim. Am 22. August kehrt Gorbatschow nach Moskau zurück und unterschreibt die Haftbefehle für die Mitglieder des Notstandskomitees. Auf klärende Worte vom ihm wartet die Nation vergeblich. Jelzin, sagt Maxim, habe das weitere Krisenmanagement übernommen. Dass Gorbatschow, der erste und letzte UdSSR-Präsident, nunmehr ein König ohne Land ist, sei allen klar gewesen, als Jelzin gegen Mittag auf dem Weißen Haus nicht die sowjetische Flagge hissen lässt, sondern die russische.

»Wsjo« - das war›s, denkt Maxim. Höchste Zeit, die Wunschliste abzuarbeiten. Er beginnt mit Punkt zwei: dem kühlen Bier.

Die Punkte eins und drei - Ausschlafen und frische Socken - müssen warten: In der Nacht zum 23. rückt der Abschleppdienst an, um den Eisernen Felix - den Gründervater des sowjetischen Geheimdienstes, dessen Denkmal vor der KGB-Zentrale am Lubjanka-Platz steht - unter dem Jubel Tausender Moskauer vom Sockel zu hieven.

»Wsjo«, sagt einer, der neben Maxim steht und das Ende einer Epoche meint, die mit der Oktoberrevolution 1917 begann. Hardcore-Demokraten wie Maxim sprechen von »Oktoberputsch«. War der Widerstand gegen den Augustputsch eine Revolution? Maxim atmet tief durch die Nase ein und dann durch den Mund wieder aus: »Wenn Ja«, sagt er schließlich, »eine unvollendete.« Die Vollendung, fürchtet der inzwischen 61-jährige, werde er wohl nicht mehr erleben. Seine Kinder vielleicht. Durch Jelzins verkorkste Privatisierung von Staatseigentum, infolge von Massenelend und Kriminalität in den wilden Neunzigern sei Demokratie zum Schimpfwort verkommen.

Die Restauration - Maxim spricht von Konterrevolution - die von nunmehr 16 Jahren mit der Wahl Wladimir Putins zum Präsidenten begann, werde von den Massen als Befreiung empfunden. Russlands Wiederaufstieg zur Weltmacht lasse das Protestpotenzial gegen Null tendieren. Vor allem aber: »Es gibt keine attraktive Alternative. Nicht mal eine halbwegs attraktive.«

Zwar sind unter den vierzehn Parteien, die Mitte September bei den Duma-Wahlen antreten, auch liberale, mit deren Programm Maxim sich am ehesten identifizieren kann. »Meine Stimme«, sagt er, »kriegen sie nicht. Nicht mehr.« Schon in der ersten Duma, die zwei Jahre nach dem Augustputsch gewählt wurde, hätten die liberalen Fraktionen mit ihren Rivalitäten die »Vollendung der Revolution« verhindert und sich dadurch letztendlich die eigene Geschäftsgrundlage entzogen. Wenn nicht die Liberalen, wer bekommt dann Maxims Mandat? »Baltika Nr. 3«, sagt er, Das kühle Bier.

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