Der andere Geist von Ventotene
Das Gegenteil von einem demokratisch-sozialistischen Europa: Tom Strohschneider über das Treffen Merkel, Renzi und Hollande
Politische Auseinandersetzung ist immer auch ein Ringen um Symbole. So auch, wenn sich die Spitzen von drei EU-Gründungsstaaten vor der italienischen Insel Ventotene auf einem Kriegsschiff in Reformerpose werfen – vor historischer Kulisse. Doch mit dem, wofür dieser Ort steht, hat das Treffen nicht viel zu tun. Im Gegenteil: Es ist eher ein Versuch, sich eines Symbols zu bemächtigen und es dadurch zu entwerten.
Nach dem Brexit-Schock ist viel davon die Rede, dass die Staatenunion »von Grund auf« erneuert gehört – oder ob das überhaupt nötig sei. Merkel hat wenig Interesse signalisiert, etwas an deutscher Dominanz und Austeritätsgebaren zu ändern. Hollande hat zwar seine Präsidentschaft mit dem Versprechen einer europapolitischen Kehrtwende weg von Kürzungsdiktat und ökonomischen Ungleichgewichten begonnen; dass er das Format hat, dafür auch einzutreten, glaubt schon lange niemand mehr. Und Renzi plagen zuvörderst innenpolitische Sorgen.
Was wäre eigentlich, würde man seinen Ausspruch ernst nehmen, demzufolge die EU »die italienischen Werte« braucht, womit er den Geist jener Insel meint, das »Manifest von Ventotene«? Die italienischen Antifaschisten Altiero Spinelli, Ernesto Rossi und Eugenio Colorni hatten darin 1941 die Vision eines demokratisch-sozialistischen Europas entfaltet – als Reaktion auf den Faschismus und getragen von der Erfahrung, dass jeder Rückzug in den nationalen Vorgarten nichts verbessert, sondern nur der Reaktion in die Hände spielt.
Über ein bedingungsloses Existenzminimum, genossenschaftliches Produzieren, öffentliche Kontrolle über wichtige Sektoren wie die Energieversorgung und das Bankwesen und so fort konnte man in dem Manifest lesen. Zu Vordenkern der real existierenden EU lassen sich die Autoren also nicht zurechtbiegen. Aber es wird versucht – und sie geben denen, die ein anderes Europa anstreben, noch immer eines mit auf den Weg: Wer die »Emanzipation der arbeitenden Klassen« und »die Schaffung humanerer Lebensbedingungen« durchsetzen will, muss europäisch denken – und handeln. Mindestens.
Das klingt in Zeiten wie diesen nicht gerade nach einer Abkürzung für eine fragmentierte und schwache Linke auf ihrem Kurs Richtung grundlegende Veränderung. Zumal sie europaweit unter dem wachsenden Druck von Rechtstendenzen steht. Einen anderen Weg gibt es aber nicht. Oder, um es mit dem »Manifest« zu sagen: Er »wird weder bequem noch sicher sein. Wir müssen ihn jedoch beschreiten.«
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