»Während das Land zerfiel ...«

Julia Kissina: »Elephantinas Moskauer Jahre« - ein Schlüsselroman über die russische Gegenkultur der 1980er

  • Karlheinz Kasper
  • Lesedauer: 5 Min.

Julia Kissina, 1966 in Kiew in einer jüdischen Familie geboren, debütierte Ende der 1980er Jahre als Aktions- und Fotokünstlerin sowie mit avantgardistischer Samisdatprosa im Kreis der Moskauer Konzeptualisten um Pawel Pepperstein, Wladimir Sorokin und Andrej Monastyrski. Sie studierte an der Moskauer Filmhochschule und an der Kunstakademie München. 1990 übersiedelte sie nach Deutschland und lebt seit 1993 in Berlin.

Zu ihren ersten Publikationen in Deutschland gehörten Beiträge zum Ausstellungskatalog »Präprintium. Moskauer Bücher aus dem Samizdat« (1998). Bloomsbury brachte 2005 das Jugendbuch »Milin und der Zauberstift« mit Illustrationen der Autorin heraus. Sechzehn absurde Erzählungen enthielt der Band »Vergiss Tarantino« (Aufbau 2005). Dem an Bulgakows »Weiße Garde« anknüpfenden Kiew-Roman »Frühling auf dem Mond« (Suhrkamp 2013), dem ersten Band einer geplanten »Mondtrilogie« über die »terra incognita« UdSSR, folgte 2015 ein zweiter: »Elephantinas Moskauer Jahre«.

Beide sind der Ich-Erzählerin Julia in den Mund gelegt, in Weltsicht und Erzählweise eine »Mondsüchtige« mit der Doppelperspektive des in der Vergangenheit agierenden Teenagers und der aus der Gegenwart urteilenden reifen Frau. So entstand ein stark verfremdeter, vielschichtiger Schlüsselroman mit Biss und Witz über die Moskauer Gegenkultur der 1980er. Er erinnert an Valentin Katajews »Meine Diamantenkrone« (1985), ein literarisches Vexierbild der 1920er Jahre. Katajew umschrieb seine Sonderstellung in der sowjetrussischen Literatur mit dem Schlagwort »Mauvismus«. Kissina bekennt sich zum Konzeptualismus, der ihr erlaubt, extrem subjektiv zu sein, ohne sich einer Modeströmung zu unterwerfen.

Die Romanhandlung fällt in die Jahre 1981 bis 1988. Diese Chronologie markiert ein Vorspann aus zeitgeschichtlichen Fakten, die einzelnen Kapiteln vorangestellt sind, aber das Romangeschehen nicht direkt tangieren. 1981 besucht Julia noch die langweilige Kiewer Malschule. Nach dem Tod eines jungen Dichters widmet sie sich der Poesie und leistet den Schwur, niemals auf die Meinung anderer zu hören, sich dem Werk zu opfern, allen Einflüssen und Autoritäten Widerstand zu leisten und sich niemals zu verlieben. Sie wählt die Pseudonyme Havaria Dostojewzewa und Elephantina.

Drei »schrecklich berühmte« junge Moskauer Untergrunddichter, die Kiew besuchen, bestärken sie darin, dass Literatur primär Sprache ist. Julia verknallt sich in Andrjuscha, der wie eine »Tomate« aussieht, und kürt ihn zu ihrem »Guru«. Nach der Reifeprüfung sucht sie ihn in Moskau, dem »bäuerlichen Dritten Rom«, wo es »nach Staatsapparat riecht«. Sie studiert Szenografie am Studio des Künstlertheaters, liest den Theosophen Emanuel Swedenborg, taucht in das brodelnde geistige Leben des Untergrunds ein und schreibt kesse Gedichte. Ihre Liebe zu dem »wahnsinnig populären Tomaterich« bleibt platonisch, auch wenn er sie als »neue Achmatowa« lobt.

Aus Julias Sicht ist Moskau eine Stadt der Rücksichtslosigkeit und des Dünkels, in der nur eine einzige Regel gilt: »Verhalte dich wie ein Kampfhahn.« Das literarische Leben gleicht einem »hemmungs- und grenzenlosen Besäufnis«. Viele junge Dichter werden vom KGB observiert, verdienen ihr Brot als Hausmeister und Nachtwächter, sind »Allesschlucker«, Kandidaten für Leberzirrhose, Infarkte und Suizide, suchen »Musen«, mit denen sie schlafen, trinken und reden können. Die nonnenhafte Julia ist nicht ihr Typ. Sie träumt von einer Liebe, die das Körperliche hinter sich lässt, sympathisiert mit den Ausgeflippten und misstraut den Etablierten. Ihr gefallen weder der »Grundpfeiler des russischen Formalismus« in Peredelkino noch Mumu im gelben Jackett, der »mit beispiellosem Elan die Fußsohlen westlicher Berühmtheiten leckte« und verkündete, in der UdSSR sei »Dichtung mehr als Dichtung«. Respekt hingegen bezeugt sie dem Dichter und Lehrer ihres »Tomätchens« Krokodil Krokodilowitsch Krokodilzew, der sechzehnjährigen Poetessa Nina, deren rebellischer Geist danach lechzt, jede Moral zu zerstören, sowie dem amerikanischen »Beatnik« Allen Ginsberg.

Da Julia keine Aufenthaltsgenehmigung für Moskau besitzt, nächtigt sie bei entfernten Verwandten, in verwahrlosten Wohnungen, Betonruinen, Kellern, Treppenhäusern, Theatergarderoben, Künstlerateliers, Museen oder auf Bahnhöfen. Eine Scheinheirat bringt keine Lösung. Die Ausbildung zur Bühnenbildnerin befriedigt sie nicht. Ihr Herz schlägt für die Literatur, die von Leben und Tod erzählt. Der geniale »Tomaterich«, längst in den Untergrund getrieben, emigriert in die USA.

Nachdem Julia wegen ihrer Zeichnungen vom KGB verhört und wegen ihrer schwachen Studienleistungen exmatrikuliert worden ist, hält sie nichts mehr in der Hauptstadt. Wieder im provinziellen Kiew bei den Eltern, nimmt sie sich vor, die Moskauer Jahre literarisch zu rekonstruieren. Ihr Grundgedanke, knapp zusammengefasst und als Resümee für den absurden und grotesken Roman tauglich, lautet: »Während das Land zerfiel, wurden wir erwachsen.«

Mancher Leser wird fragen, wer hinter den Pseudonymen der Romangestalten steht. Nicht alle lassen sich dechiffrieren. Hinter dem »Tomaterich« versteckt sich der Dichter Alexej Parschtschikow, in den 1980er Jahren einer der wichtigsten »Metarealisten«, der 1991 in die USA emigrierte und 2009 in Köln starb. Hinter Krokodilzew kann man Andrej Monastyrski vermuten, einen der genialen Stammväter des Moskauer Konzeptualismus. Mumu dürfte ein nicht sehr freundliches Konterfei von Jewgeni Jewtuschenko sein. Der Name des »Klassikers« aus Peredelkino wird im Roman genannt: Viktor Schklowski. Die Erzählerin übrigens ist nicht identisch mit der Autorin, obwohl in ihr auch ein Teil von Julia Kissina steckt.

Julia Kissina: Elephantinas Moskauer Jahre. Roman. Aus dem Russischen von Ingolf Hoppmann und Olga Kouvchinnikova. Suhrkamp. 240 S., geb., 22,95 Euro. Der Suhrkamp Verlag hat eine interessante Fotostory zu dem Roman hergestellt: https://suhrkamp.exposure.co/elephantinas-moskauer-jahre.

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