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Jamel-Doku: Meistens allein unter Nazis
Die ARD-Doku »Jamel – Lauter Widerstand« erzählt von einem braunen Dorf, in dem zwei Bewohner ein Musikfestival gegen rechts veranstalten
Seine Nachbarn kann man sich in aller Regel nicht aussuchen. Mit wem Birgit Lohmeyer seit 21 Jahren allerdings Hof an Hof lebt – »da haben wir mit Jamel natürlich tief, tief, tief in die Scheiße gegriffen«, und zwar buchstäblich. Denn brauner als im westmecklenburgischen Weiler zwischen Lübeck und Wismar können Nachbarn schlichtweg nicht sein. Jamel ist schließlich als Nazi-Dorf bekannt, in dem Birgit Lohmeyer mit ihrem Mann Horst die Stellung der Vernunftbegabten hält. Und wie!
Drei Jahre nach ihrem Einzug ins Umfeld des zigfach vorbestraften NPD-Funktionärs und Hammerskins Sven Krüger haben die Lohmeyers auf ihrem Grundstück ein Musikfestival gegen rechts gegründet. Unter gewaltbereiten Neonazis der annähernd national befreiten Zone traten zunächst lokale Bands vor ein paar Handvoll Gleichgesinnter auf. Als 2015 kurz vor dem inzwischen »Jamel rockt den Förster« benannten Festival die Scheune der Veranstalter in Brand gesetzt wurde, kamen als Überraschungsgäste jedoch die Toten Hosen. Und traten damit eine Lawine los, von der die ARD-Dokumentation »Jamel – Lauter Widerstand« erzählt.
»Da haben wir mit Jamel natürlich tief, tief, tief in die Scheiße gegriffen.«
Birgit Lohmeyer über ihre Nachbarn
Der Filmemacher Martin Groß blickt darin auf die ersten 16 Festivals zurück und zeigt zugleich, wie kompliziert der Weg zum 17. war. Am Tag nach dem Festival nämlich wurde in Thüringen der Landtag gewählt, wobei erstmals seit der geistesverwandten NSDAP eine rechtsextreme Partei in Deutschland stärkste Kraft wurde. »Man merkt überall im Land, dass es nicht mehr schambehaftet ist, Nazi zu sein«, sagte Birgit Lohmeyer bereits im Vorfeld der vorangegangenen Europawahl. Und sie sollte recht behalten.
In der 67-minütigen Reportage erleben wir nicht nur, wie kontinentale bis kommunale Urnengänge reihenweise völkische Sieger produzieren. Beflügelt von ostdeutschen AfD-Triumphen werden auch die Nachbarn der Lohmeyers offensiver. Man sieht es, wenn zwei rechte Rentner der Kreisstadt Grevesmühlen der angeblichen »Lügenpresse« bei einer linksliberalen Demo ins Mikro lügen, bei ihnen gäbe es gar keine Rechten. Man sieht es, wenn der Historiker Daniel Trepsdorf in Jamel den Begriff der »völkischen Landnahme« erklärt und Sven Krüger dreimal auf seinem Quad durch den Hintergrund fährt.
Vor allem aber sieht man es im Gemeinderat von Gägelow, wo Krügers NSDAP-Wiedergängerin »Heimat« versucht, das Festival mit einer vorgeschobenen Umweltschutz-Klage zu verhindern – und beinahe Erfolg hat. »Jamel« ist somit nicht nur ein höchst interessanter, zutiefst beängstigender Film über das neue Selbstbewusstsein Ewiggestriger; er zeichnet darüber hinaus das irritierende Porträt einer Gesellschaft, deren Feinde weniger mit Springerstiefeln als Paragrafen gegen die pluralistische Demokratie zu Felde ziehen und dafür oft bürgerlichen Zuspruch erhalten. Wenngleich in diesem Fall nicht genug.
Denn »Jamel rockt den Förster«, so viel vorweg, fand auch in diesem Sommer statt – und lockte abermals viele Superstars der deutschen Popkultur an, die seit dem Überraschungsauftritt der Toten Hosen nicht mehr angekündigt werden. Im August fiel der Vorhang folglich vor den Fantastischen Vier, die selbst Element of Crime, Olli Schulz oder Ebow in den Schatten ihrer Popularität stellten – ähnlich strahlend wie in den Jahren zuvor Die Ärzte, Kraftklub, Grönemeyer und Deichkind.
So handelt die filmische Festivalbegleitung nicht nur vom einbrechenden Dunkel der Zivilisation, sondern den Fackeln der Helligkeit, die es unermüdlich beleuchten. Allen voran Birgit und Horst Lohmeyer, die ihre 3500 zahlenden Gäste pro Jahr fast noch mehr verehren als ihre musizierenden Gäste. Manchmal arbeitet Filmemacher Martin Groß dabei zwar mit manipulativer Symbolik. Dass durchs Idyll der Guten gern Schmetterlinge flattern, während sich bei den Bösen der Schrott stapelt, ist mitunter arg zu viel. Aber besondere Mühe geben sich die völkischen Beobachter ja auch nicht, philanthropisch rüberzukommen.
Wenn die Polizei berichtet, 2023 bei einer Razzia unter 36 Dorf-Nazis unfassbare 7,5 Tonnen Propagandamaterial und Waffen beschlagnahmt zu haben, ist das Reh im Garten der Lohmeyers vielleicht auch angebrachter als bei Familie Krüger – den denkbar schrecklichsten Nachbarn, die Menschen links von rechts haben können. Was erstere unter Nachbarschaft verstehen, erfährt man übrigens am Schluss. Als einer der Rechten vom Container fällt, der ihnen als Aussichtsplattform dient, ersuchen sie auf dem Festivalgelände um Hilfe. »Die haben wir ihnen natürlich gewährt«, sagt ein Veranstalter. Wenn er die folgenden 360 Tage des Jahres allein unter Nazis ist, dürfte ihm solch ein Beistand verwehrt bleiben.
Verfügbar in der ARD-Mediathek
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