Schweigen für Gerechtigkeit
NFL-Star Colin Kaepernick singt die US-Hymne nicht mehr mit, um gegen Polizeigewalt und Rassismus zu demonstrieren
Fangesänge sind nicht besonders verbreitet in den USA. Während beispielsweise »You‘ll never walk alone« ein Klassiker in Europas Stadien ist, wird auf der anderen Seite des Atlantiks oft nur rhythmisch geklatscht, wenn etwas Stimmung aufkommen soll. Doch ein Lied ist überall in den Staaten zu hören: The Star-Spangled Banner. Die Nationalhymne gehört zu jedem Sportmatch dazu – vom Basketballländerspiel übers College-Football-Finale bis hin zum Little-League-Softballmatch von sechsjährigen Erstklässlern. Bevor gespielt wird, wird gesungen.
Nur so ist zu verstehen, welchen Wirbel Colin Kaepernick ausgelöst hat und warum er genau diese Protestform wählte, als er in den Vorbereitungsspielen zur bald beginnenden Saison der National Football League (NFL) entschied, nicht mehr aufzustehen, nicht mehr die Hand ans Herz zu halten, nicht mehr die wehende US-Flagge anzusehen, nicht mehr mitzusingen. »Ich kann nicht aufstehen und den Stolz vor der Flagge eines Landes zeigen, das schwarze Menschen unterdrückt«, erklärte der Profi der San Francisco 49ers und klang dabei wie einst Muhammad Ali bei seiner Kriegsdienstverweigerung.
Kaepernick ist kein Bankdrücker, er ist Quarterback – der Spielmacher, dem der Trainer die Verantwortung über Sieg und Niederlage gibt.
Kapernick verdient 126 Millionen Dollar (112 Millionen Euro) in sechs Jahren. Er spielte 2012 im Super Bowl, und auch wenn ihn Verletzungen danach zurückwarfen, ist er immer noch ein Star in der umsatzstärksten Sportliga der Welt. Und er ist schwarz. »Mir geht es um mehr als Football. Ja, der Sport hat mir die Möglichkeit gegeben, in Luxus zu leben, doch genau deswegen wäre es egoistisch von mir
wegzusehen. Da liegen Leichen auf unseren Straßen. Ich kämpfe hier für Menschen, die keine Stimme haben.« Die Hymne vor dem Spiel gehört zu Profispielen wie die Kabineninterviews danach. Dann reden Spieler, oft nur mit einem Handtuch bekleidet darüber, wo es gerade zwickt, welche Fehler begangen wurden und wie man sie verbessern will.
Kaepernicks Weigerung, die Hymne mitzusingen, war ursprünglich fast niemandem aufgefallen. Doch als er seinen Protest vor wenigen Tagen erstmals öffentlich erklärte, musste er plötzlich darüber sprechen, wo es im Land zwickt, welche Fehler Polizisten und Politiker begehen, und wie sie abgestellt werden müssten.
Dabei ist Kaepernick kein Gegner von Nationalismus. Er ist stolz auf die Werte der USA, sieht sie jedoch gefährdet: »Dieses Land steht für Freiheit und Gerechtigkeit für alle, doch alle bekommen sie nicht. Diese Probleme gibt es seit Jahrzehnten, aber sie werden nicht angegangen. Das muss jetzt geschehen.«
Vorerst werde er sitzenbleiben und sich damit für unterdrückte Menschen einsetzen, sagt Kaepernick,
dessen Vater noch vor der Geburt abgehauen war, und dessen Mutter ihn danach zur Adoption freigab. Kaepernick wuchs bei weißen Eltern auf, was ihn jedoch nicht vor dem alltäglichen Rassismus in den USA schützte. »Ich half mal meinem Mitbewohner am College beim Umzug. Weil wir die einzigen Schwarzen in der Gegend waren, riefen Nachbarn die Polizei, weil sie dachten, wir wären Einbrecher.
Polizisten kamen und bedrohten meinen Kumpel mit gezogener Waffe «, berichtet Kaepernick.
Überhaupt sei Polizeigewalt das erste Übel, das angegangen werden müsse: »Menschen werden grundlos ermordet, und die Cops dafür nicht zur Rechenschaft gezogen. Die bekommen dafür sogar bezahlten Urlaub. Das ist nicht richtig.« Rassismus ist seit Monaten eins der Hauptthemen im Präsidentschaftswahlkampf. Doch Kaepernick will keine einseitige Wahlhilfe betreiben. Beide Kandidaten würden eher für das Problem stehen, nicht für die Lösung: »Da haben wir Hillary Clinton, die schwarze Kinder als ‚Superräuber‘ bezeichnet hat (in einer Rede über Drogenkartelle im Jahr 1996,Anm. d.Red.). Und wir haben Donald Trump, ein öffentlich agierender Rassist.« Clinton habe zudem »illegal E-Mails gelöscht, wofür normale Menschen ins Gefängnis gehen«. Sie dürfe aber weiter Präsidentschaftskandidatin sein. Dass mit Barack Obama zwei Mal ein Schwarzer zum Präsidenten
gewählt wurde, bedeute nicht, dass nicht noch viel im Land geändert werden müsse.
Donald Trump hatte am Wochenende mal wieder Kritik einstecken müssen, als er den Tod einer Verwandten eines schwarzen NBA-Stars bei einer Schießerei in Chicago für seine Zwecke ausnutzen wollte. »Dwyane Wades Cousine wurde erschossen, als sie ihr Baby im Kinderwagen um den Block fuhr. Genau wie ich es sagte: Afroamerikaner werden für Trump stimmen«, hatte er am Samstag getwittert.
Beileidsbekundungen kamen erst, nachdem der Shitstorm über Trump hereingebrochen war.
Kaepernick erhielt viel Zuspruch, vor allem von Afroamerikanern. Er muss für seinen Protest aber auch
Kritik einstecken – fast ausnahmslos von Weißen. Fans verbrennen Trikots mit seinem Namen und hören dabei die US-Hymne, als ob das brennende Kaepernick-Trikot die neuen Nationalflagge wäre. Trainer und Spieler anderer Teams werfen Kaepernick mangelnden Respekt für jene Soldaten vor, die seine Rede- und Demonstrationsfreiheit verteidigen würden. Er solle sich doch gefälligst eine andere Protestform aussuchen.
Doch der Gescholtene antwortete mit dem Hinweis, dass jene Soldaten umsonst sterben würden, wenn sie für gleiche Rechte aller kämpfen, ihr Land dieses Versprechen jedoch nicht einlöse. Noch ist der Spieler aus San Francisco der einzige Profisportler, der so protestiert, auch wenn vor ihm bereits andere Stars, vor allem aus der NBA gegen Polizeigewalt und rassistische Diskriminierungen demonstriert haben. Er wolle auch niemanden überreden, sich ihm anzuschließen, immerhin falle er weicher als andere. »Viele Leute wollen diese Diskussion nicht führen. Sie haben Angst, sie könnten ihren Job oder ihre Sponsoren verlieren. Man könnte sie dann anders behandeln. Ich bin darauf vorbereitet, damit umzugehen. Sie können mir alles nehmen: den Football, sogar meine Titel. Aber ich würde immer noch wissen, dass das, wofür ich mich einsetzte, richtig war«, so Kaepernick.
Bislang erscheint es unwahrscheinlich, dass er Konsequenzen befürchten muss. Sowohl die 49ers als auch die NFL betonten in ersten Stellungnahmen, dass niemand gezwungen werde, bei der Hymne aufzustehen. Kaepernick wurde auch noch gefragt, ob er nun mehr Angst um sein Leben habe: »Eigentlich nicht«, antwortete er, »aber wenn mir doch was passieren sollte, beweist das nur, dass ich recht hatte.«
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