Kybernetischer Kapitalismus
Smarte Worte III: Ideologie, Kapitalakkumulation und soziale Kontrolle - über selbstregulierende Systeme auf Grundlage massiver Datenerhebung
Die Kybernetik wurde während des Zweiten Weltkrieges von Norbert Wiener als »Wissenschaft von Kommunikation und Kontrolle« begründet. Ziel war es, auf Grundlage massiver Datenerhebung selbstregulierende Systeme zu schaffen – von einer sich selbst ausrichtenden Flugabwehrkanone bis zur vollautomatischen Fabrik. Im Zuge der Entwicklung der Informationstechnologien wurde die Kybernetik zu einem wichtigen Bezugspunkt für die Organisation von Produktion und Kontrolle. Der Begriff des kybernetischen Kapitalismus umfasst dabei drei Ebenen: Ideologie, Kapitalakkumulation und soziale Kontrolle.
Auf der ideologischen Ebene kann von einer Verschmelzung von Kybernetik und Neoliberalismus zur zentralen Ideologie des Informationszeitalters gesprochen werden. So prophezeite Bill Gates, dass im Zuge der allgemeinen Verfügbarkeit von Internetzugängen endlich Adam Smiths These der vollständig informierten Marktteilnehmer Realität werden würde. Dadurch entstehe ein weltweites, auf der Basis von Preisinformationen selbstreguliertes Marktsystem, das er als »reibungslosen Kapitalismus« bezeichnet. Mit der Entwicklung der Big-Data-Analyseverfahren verschärft sich diese Ideologie zu einem Glauben an algorithmenbasierte Selbstregulierung, die imstande ist, Entscheidungen zu fällen, die sich dem menschlichen Verständnis entziehen, weil sie sich auf eine riesige Datenbasis stützen.
Auf der Ebene der Kapitalakkumulation verweist der Begriff des kybernetischen Kapitalismus darauf, dass Produktion, Kommunikation und Kontrolle immer öfter in einen einzigen Prozess zusammenfallen und sogar von derselben technischen Infrastruktur ermöglicht werden: Produktionsprozesse (z.B. in der Industrie 4.0) werden mittels Sensortechnik überwacht um Angestellte zu kontrollieren und Abläufe zu rationalisieren – und die Daten können schlussendlich als zusätzliche Ware neben dem materiellen Produkt verkauft werden. In physischen und virtuellen Verkaufsräumen wird das Kund_innenverhalten überwacht und analysiert, um so gleichzeitig Diebstähle verhindern, den Verkauf optimieren und personalisierte Werbung anbieten zu können.
Die soziale Kontrolle nach dem kybernetischen Modell wurde im deutschsprachigen Raum erstmals von BKA-Chef Horst Herold popularisiert. Im Kampf gegen die RAF wollte Herold seiner Polizei den entscheidenden Vorteil durch den Einsatz von Computertechnologie verschaffen, wodurch eine »kybernetische Präventionspolizei« entstehen sollte, die Verbrechensrisiken vorausberechnen könne. Dieses Modell wurde auf der Grundlage von Big-Data-Analyseverfahren zum sogenannten predictive policing weiterentwickelt, bei dem Algorithmen dafür sorgen sollen, dass die Polizei vor den TäterInnen am Tatort ist. Ähnliche Modelle kommen in der präventiven Epidemiologie oder im sogenannten riot forecasting zum Einsatz. Kybernetische Kontrolle besteht jedoch nicht nur aus dem Auswerten, sondern auch aus dem gezielten steuern von Informationen. So setzen Polizeien immer stärker auf soziale Medien wie Twitter und Facebook. Nicht nur um ihre Inhalte ohne journalistische Kontrolle direkt verbreiten zu können, sondern auch, um direkt auf brisante Situationen wie Demonstrationen oder Aufstände einwirken zu können, weil davon ausgegangen werden kann, dass viele der Beteiligten die Botschaften live auf ihren Smartphones empfangen.
Der kybernetische Kapitalismus zeichnet sich also nicht nur durch die Inwertsetzung von Daten, sondern vor allem durch eine datenbasierte Steuerung nach dem Modell der undurchschaubaren Blackbox aus. Jede Abweichung soll so zum Feedback werden, das zur Stabilisierung des Gesamtsystems beiträgt. (SiSch)
Zum Weiterlesen:
Nick Dyer Witheford (2015): Cyber-Proletariat. Global Labour in the Digital Vortex. Pluto Press, Toronto.
Tiqqun (2007): Kybernetik und Revolte. diaphanes, Zürich.
Norbert Wiener (1952): Mensch und Menschmaschine. Metzner, Frankfurt a.M.
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