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Oldenburgs Aufstand für Lorenz

Nach Polizeischüssen von hinten auf einen 21-Jährigen sucht die Stadt nach Antworten

  • Friedrich Kraft
  • Lesedauer: 5 Min.
Die Kundgebung mit bis 10 000 Menschen in Oldenburg ist nach einem derartigen Vorfall von Polizeigewalt seit Langem bundesweit beispiellos.
Die Kundgebung mit bis 10 000 Menschen in Oldenburg ist nach einem derartigen Vorfall von Polizeigewalt seit Langem bundesweit beispiellos.

»Sie haben ihn erschossen. Mein Bruder wurde von hinten von der Polizei erschossen. Ich will, dass ihr versteht, was das bedeutet«, ruft Ihsan, enger Freund von Lorenz A., den Zuhörenden auf dem Oldenburger Pferdemarkt zu. Seine Stimme ist ruhig, doch voller Schmerz. Am Freitagabend versammeln sich auf dem Platz an die 10 000 Menschen – keine Woche, nachdem der junge Schwarze Deutsche von Polizeikugeln getötet wurde.

Lorenz A. wurde nur 21 Jahre alt. Er kam in der Nacht zum Ostersonntag durch Kugeln eines Polizisten ums Leben. Wie genau es zur tödlichen Eskalation kam, dies beschäftigt in diesen Tagen wohl viele in Oldenburg. Fest steht: Der Beamte gab mindestens vier Schüsse auf den jungen Oldenburger ab. Drei Projektile trafen Lorenz von hinten – in Hüfte, Oberkörper und Kopf –, ein viertes streifte seinen Oberschenkel – auch dieser Schuss könnte hinterrücks abgefeuert worden sein.

Lorenz erlag seinen Verletzungen wenig später im Krankenhaus – seitdem ist in Oldenburg kaum mehr etwas wie zuvor. Nach bisherigen Erkenntnissen geriet der junge Mann in der Tatnacht vor einem Club in einen Streit, wurde von Türstehern oder Gästen daraufhin verfolgt, versprühte dabei Pfefferspray. Er soll auch mit einem Messer hantiert haben, weshalb seine Verfolger offenbar von ihm abließen.

Lorenz rannte auf seiner Flucht durch die am Osterwochenende gut besuchte Oldenburger Innenstadt. In einer Seitenstraße stellten ihn schließlich Polizist*innen. Nach einer ersten Meldung habe er sich den Beamt*innen »bedrohlich« genähert. Darstellungen in Sozialen Medien suggerierten anschließend, dass Lorenz A. dabei auch das besagte Messer in der Hand hielt. Dieses – oder ein anderes – Messer befand sich im Moment der Schussabgabe aber in der Hosentasche, wie nun auch die Staatsanwaltschaft bestätigt.

Der Oldenburger Tat- ist ein Gedenkort geworden.
Der Oldenburger Tat- ist ein Gedenkort geworden.

»Wir stehen heute hier, um zu trauern – und um laut zu sein. Laut für Aufklärung und Gerechtigkeit!«, ruft eine Organisatorin der Initiative Gerechtigkeit für Lorenz am Freitagabend in das Mikrofon. Hinter ihr auf der kleinen Bühne stehen weitere Freund*innen des Getöteten, sichtlich überwältigt von der Anteilnahme und dem, was sie in den zurückliegenden Tagen durchmachten.

Auf der Bühne am Pferdemarkt wechseln sich Freund*innen, Unterstützer*innen und Hinterbliebene ähnlicher Fälle mit ihren Redebeiträgen ab. Auch Sidy Dramé, Bruder des 2022 in Dortmund erschossenen Mouhamed Dramé, hält eine Rede. Nach ihm Mamadou Saliou Diallo, der Bruder des 2005 in Dessau mutmaßlich von der Polizei getöteten Oury Jalloh.

Die Reden auf der Bühne am Pferdemarkt zeichnen ein Bild von Lorenz A. als Mensch und kontrastieren damit den anonymen »21-Jährigen« aus den ersten Polizei- und Pressemeldungen. »Lorenz war ein Mensch mit Herz, mit Träumen, mit einer Seele, die diese Welt gebraucht hat«, sagt Ihsan, ringt sichtlich mit den Tränen.

Ellen, eine enge Freundin der Familie, die im Namen von Lorenz’ Mutter spricht, findet ebenso ergreifende wie erschütternde Worte. »Lorenz’ Mutter kann heute nicht hier sein. Sie kann nicht essen, sie kann nicht schlafen. Ihr wurde alles genommen, wofür sie je gelebt hat«, berichtet sie mit erstickter Stimme. Viele im Publikum weinen leise mit. Ausdrücklich bedankt sie sich für die Solidarität – bei den Freund*innen, die an der Unglücksstelle seit nun fünf Tagen wachen. Einige von ihnen hätten sogar »sein Blut am Sonntagmorgen von der Straße gewaschen« – ein Bild, das die Tiefe des Schocks in der auf der Bühne versammelten Gemeinschaft erahnen lässt.

Eine Mischung aus tiefem Schmerz und dankbarer Verbundenheit prägt die Stimmung der Kundgebung, bis eine zunächst leicht chaotische, dann kraftvolle Demonstration beginnt. Tausende Menschen ziehen vom Pferdemarkt durch die Innenstadt – deutlich mehr als die 1500, die ursprünglich erwartet wurden. In dieser Spontanität und Größe dürfte ein solcher Protest in unmittelbarer Reaktion auf tödliche Polizeischüsse seit Langem bundesweit beispiellos sein.

»Wir setzen auf ein starkes, friedliches Zeichen der Solidarität – für Gerechtigkeit, für Wahrheit, für Menschlichkeit«, hieß es im Vorfeld in einer Mitteilung der Familie, verbreitet von der Initiative »Gerechtigkeit für Lorenz«. Die Polizei hält sich tatsächlich im Hintergrund, uniformierte Beamte sind während der Kundgebung kaum zu sehen. Ein Erfolg der Kommunikation zwischen Demoleitung und Polizei, wie Organisator*innen dem »nd« erzählen. Beide Seiten scheinen nicht an weiteren Eskalationen interessiert zu sein.

Hier starb Lorenz A. Seine Mutter bedankte sich, dass Unterstützer*innen »sein Blut am Sonntagmorgen von der Straße gewaschen« hätten.
Hier starb Lorenz A. Seine Mutter bedankte sich, dass Unterstützer*innen »sein Blut am Sonntagmorgen von der Straße gewaschen« hätten.

Viele Demonstrierende hatten gehofft, dass Vertreter*innen der Stadt erscheinen und sich ihren Fragen stellen. Doch Oldenburgs Oberbürgermeister Jürgen Krogmann (SPD) lässt sich nicht blicken. Gerade von ihm fühlen sich viele im Stich gelassen: Noch am Vortag habe Krogmann beschwichtigend appelliert und versichert, man könne jederzeit mit ihm sprechen. Gekommen war von der Stadtspitze dann aber nur ein knapper Social-Media-Post mit einer Beileidsbekundung und dem Verweis auf laufende Ermittlungen.

Während auf den Straßen der Protest unüberhörbar wird und das Meer an Blumen, Kerzen und Briefen am Tatort in der Fußgängerzone weiterhin anwächst, laufen die Ermittlungen. Die Staatsanwaltschaft Oldenburg hat – anders als in vielen Fällen ähnlicher Art – von Beginn an ein Verfahren wegen des Verdachts auf Totschlag gegen den Schützen eingeleitet.

Dass die Behörde nicht nur wegen Körperverletzung mit Todesfolge ermittelt, zeigt, wie ernst die ermittelnde Staatsanwältin Eva Bredel den Fall nimmt. Dienstagnachmittag informiert sie sofort nach Vorliegen des Obduktionsergebnisses die Öffentlichkeit darüber, dass die Schüsse Lorenz A. von hinten trafen.

Ob der Fall auch zur Anklage kommt, ist aber fraglich: In Deutschland hat es bisher kaum Strafprozesse gegen Polizist*innen wegen Totschlags gegeben. Im derzeit bekanntesten Fall dieser Art – dem Verfahren gegen einen Dortmunder Beamten nach dem Tod Mouhamed Dramés – endete der Prozess in der ersten Instanz im vergangenen Dezember mit einem Freispruch.

Ein Transparent des Bündnisses »United against Racism«. Die Staatsanwaltschaft hat – anders als in ähnlichen Fällen – ein Verfahren wegen des Verdachts auf Totschlag gegen den Schützen eingeleitet.
Ein Transparent des Bündnisses »United against Racism«. Die Staatsanwaltschaft hat – anders als in ähnlichen Fällen – ein Verfahren wegen des Verdachts auf Totschlag gegen den Schützen eingeleitet.

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