Flüchtlingsfeindlicher Hinterhalt im Göttinger Rathaus
Abschiebung eines Brasilianers bei Termin in Ausländerbehörde vereitelt / Grüne Jugend: »Grob rechtswidriges« Vorgehen
Der 30-Jährige, der seit November des vergangenen Jahres mit einer legal in Deutschland lebenden Israelin verheiratet ist, war am 29. August in das Amt bestellt worden – vorgeblich, um über seinen vor acht Monaten gestellten Antrag auf Ehegattennachzug zu befinden oder ihm zumindest zu bescheinigen, dass er einen solchen Antrag gestellt hat. Doch anstelle des Sachbearbeiters wartete die Polizei auf den Mann. Ihr Mandant, berichtet die Göttinger Rechtsanwältin Silke Schäfer, sei in Handschellen gelegt, von zwei Polizisten und zwei Mitarbeitern des Bundesamtes für Flüchtlinge und Migration abgeführt und zum Flughafen Frankfurt gebracht worden.
Weil Unterstützer schnell aktiv wurden, konnte Schäfer kurz vor Abflug der Maschine einen Eilantrag beim Verwaltungsgericht stellen. Diesem wurde auch stattgegeben: Über den Antrag des Brasilianers sei doch noch gar nicht entschieden worden, entschied das Gericht. Es verpflichtete die Stadt Göttingen per einstweiliger Anordnung, dem Mann eine vorläufige Duldung zu erteilen.
Der Betroffene hatte zum Wintersemester 2008/2009 ein Medizinstudium an der Göttinger Universität aufgenommen, musste dieses wegen persönlicher Notlagen aber mehrmals unterbrechen: Zunächst zog er sich während eines Praktikums eine Schnittverletzung zu, die eine teilweise Lähmung seiner Hand zur Folge hatte. Dann starben sein Vater und sein Bruder bei einem Unfall in Palästina. Schließlich erkrankte seine damalige Partnerin an Krebs. Weil sich sein psychischer Zustand verschlechterte, musste er eine Therapie beginnen.
Wegen mangelnder Fortschritte im Studium lehnte die Ausländerbehörde schließlich eine weitere Aufenthaltserlaubnis ab. Das Verwaltungsgericht gab der Stadt Recht: Da der Mann sein Studium nicht mehr in einem angemessenen Zeitraum beenden könne, habe er keinen Anspruch auf eine weitere Aufenthaltserlaubnis zu Studienzwecken. Kurz vor diesem Gerichtsurteil hatte der Student im Januar jedoch seinen Antrag auf Ehegattennachzug gestellt.
Die Grüne Jugend bezeichnet das Vorgehen der Ausländerbehörde – sie ist dem Grünen-Ordnungsdezernenten unterstellt – als »grob rechtswidrig«. Die Festnahme eines Menschen in dem Räumen der Stadt sei »ein Unikum in den letzten Jahren«. Auch Kai Weber vom Niedersächsischen Flüchtlingsrat ist aus den vergangenen Jahren kein Fall bekannt, in dem ein Flüchtling während eines Behördentermins abgeschoben wurde.
In Göttingen hat Anwältin Schäfer Strafanzeige gegen einen Sachbearbeiter in der Göttingen Ausländerbehörde und gegen dessen Vorgesetzten erstattet. Die Anzeige richtet sich auch gegen die beiden Polizisten und Beamten des Bundesamtes. Die Juristin fordert zudem personelle Konsequenzen im Rathaus. Es sei nicht hinzunehmen, dass eine Behörde einen Aufenthaltserlaubnisantrag ignoriere und stattdessen »heimtückisch eine Abschiebung eingeleitet« habe.
Die Behörde selbst räumte inzwischen ein, die Abschiebung sei nicht rechtmäßig gewesen. Es werde künftig bei Terminen in der Ausländerbehörde auch keine Festnahmen zur Abschiebung mehr geben.
In der neuen App »nd.Digital« lesen Sie alle Ausgaben des »nd« ganz bequem online und offline. Die App ist frei von Werbung und ohne Tracking. Sie ist verfügbar für iOS (zum Download im Apple-Store), Android (zum Download im Google Play Store) und als Web-Version im Browser (zur Web-Version). Weitere Hinweise und FAQs auf dasnd.de/digital.
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.
Vielen Dank!