Zukunftslabor Neukölln
Franziska Giffey ist seit 2015 Bürgermeisterin in Deutschlands bekanntestem Brennpunkt
Erst der dritte Kunde in Zimmer 4 des Bürgeramts Neukölln in der Sonnenallee erkennt die Frau, die hinter dem Schreibtisch sitzt. »Frau Giffey!« ruft Manfred Pletsch. »Wir kennen uns doch!« Pletsch hatte die Bezirksbürgermeisterin von Neukölln auf einer Veranstaltung getroffen. Franziska Giffey kam, um bei einem Streit um das Erbpachtrecht zu vermitteln - zu Pletschs Zufriedenheit. Auch Giffey erinnert sich, sie plaudern kurz, dann fragt sie, womit sie helfen könne. Er braucht einen neuen Personalausweis. »Frau Giffey, können Sie mir versichern, dass ich den noch vor der Wahl kriege?«
Die SPD-Frau Giffey macht an diesem Donnerstag ein Praktikum im Bürgeramt. »Ich will einmal gesehen haben, wie das funktioniert. Das ist schließlich der Erstkontakt zum Bürger.« Giffey hat die Haare zu einem damenhaften Dutt hochgesteckt, trägt ein beiges Kostüm, am Revers das Wappen von Neukölln. Am Vormittag hat sie mit den Mitarbeitern gesprochen und sich das Computerprogramm erklären lassen.
Die promovierte Politikwissenschaftlerin ist seit April 2015 Bürgermeisterin des Bezirks. Die 38-Jährige folgte auf den langjährigen Amtsinhaber Heinz Buschkowsky, der eineinhalb Jahre vor Ende der Legislaturperiode zurücktrat. Giffey war seine Bildungsstadträtin und politische Ziehtochter. Durch sein vorzeitiges Abdanken hatte sie knapp eineinhalb Jahre Zeit, sich im Bezirk zu etablieren, bevor sie sich am 18. September als Spitzenkandidatin der Neuköllner SPD den Wahlen zur Bezirksverordnetenversammlung stellt.
Und aller Voraussicht nach gewinnen wird. Zum einen ist Neukölln seit langem fest in SPD-Händen. Zum anderen ist es Giffeys Präsenz. Auf ihrem Wochenplan für den 5. bis 12. September stehen 26 öffentliche Termine. Ist das der Standard, kommt Giffey in diesem Jahr auf 1300. Sie besucht das Sommerfest eines Kleingartenvereins, eröffnet das Popkultur-Festival und das Rixdorfer Strohballenrollen, begrüßt EU-Bürger, denen die Bezirkswahlen erklärt werden, führt zu »Neuköllns Schätzen« und durch fast jede Einbürgerungsfeier des Bezirks. Alle 14 Tage verleiht sie rund 50 bis 60 Neuköllnern die deutsche Staatsbürgerschaft.
Was ihr Amtsvorgänger Buschkowsky über das Zusammenleben der Menschen aus mehr als 150 Nationen dachte, ist deutschlandweit bekannt: »Multikulti ist gescheitert«. Giffey sieht die Sache ein bisschen anders. Richtig sei: Es gebe unter den Bewohnern des Bezirks unterschiedliche Wertesysteme sowie Tendenzen zu Parallelgesellschaften. »Man muss die Probleme offen ansprechen.« Aber das Bild von Neukölln sei einseitig und vorurteilsbelastet. »Die Gefahr ist, dass das Bild bleibt.« Das zeigte sich auch bei einem Pressetermin, auf dem sich die SPD-Kandidaten für das Amt des Bürgermeisters in den zwölf Bezirken vorstellten. Nur Giffey wurde von einer Journalistin gefragt, wann sie zuletzt eine Frau mit Burka gesehen habe. »Im Juli bei Rewe am Kühlregal«, sagte Giffey. Sie könne sich noch so gut erinnern, weil sie der Anblick erschreckt habe - auch in Neukölln sehe man Frauen mit Burka nicht alle Tage. Sie halte es damit aber wie Bundesinnenminister Thomas de Maizière: »Man kann nicht alles verbieten, was einem nicht gefällt.«
Als sie wenige Wochen später zum Kandidaten-Duell in das Café Hofperle eingeladen wird, zitiert sie den Pädagogen Johann Amos Comenius, um ihre Vision für Neukölln vorzustellen: »Das Gespräch ist die Basis des Friedens.« Friedrich den Großen nennt sie einen »großen Integrationspolitiker« und paraphrasiert seine Willkommensworte für Flüchtlinge aus Böhmen. Es fällt auf: Giffey redet nicht nur gerne, viel und gewandt, ohne allzu viele Politikerphrasen herunterzurattern. Sie kennt auch die richtigen Zitate zur passenden Zeit. Es könnte ein rhetorischer Kniff sein oder aber der Mangel eigener Ideen.
Ihr Wunsch ist es, dass Neukölln als Innovationsbezirk wahrgenommen wird, als Industrie-, Wirtschafts- und Kongressstandort. Doch das bringt neue Probleme mit sich. Der Spagat: Eine Imageaufwertung Neuköllns, ein Abschied von 76 Prozent der Haushaltsausgaben für Transferleistungen - das bedeutet entweder, für eine große Anzahl von Menschen Arbeit zu finden, die es nicht gibt, oder sie aus dem Bezirk zu verdrängen. Oder sie fallen zu lassen.
Im Café Hofperle versichert Giffey, sie wolle einen starken Staat, der den Kindern hilft, die nicht im »Wohlstandsnest« geboren seien. Aber: »Es muss auch gerecht zugehen, auch für diejenigen, die Leistung erwirtschaften.« Ein bedingungsloses Grundeinkommen hält sie deshalb für falsch. »Wer soll denn das bezahlen?« fragt sie unwirsch. »Die wollen ja gar nicht arbeiten!« sagt sie über Menschen, die nicht zu Arbeit gezwungen werden. Ihre These der fehlenden Eigeninitiative belegt sie mit dem vielen Müll, den die Menschen hinterlassen, die auf den Rathaustreppen sitzen.
Britz, ein Stadtteil im südlichen Neukölln, hat kaum eines dieser Probleme. Hier wohnen viele Rentner und junge Paare, die meisten ohne Migrationshintergrund. Eine Stadtführerin führt durch Britz, Giffey ergänzt um Insiderwissen aus dem Rathaus. Rund 20 Menschen nehmen teil, in der Mehrzahl Rentner. Alle Fragen sind erlaubt. Ein Tennisplatz soll geschlossen werden? »Nein, wie kommen Sie denn da drauf!« Eine Flüchtlingsunterkunft soll erweitert werden? »Richtig, da kommt eine Kita rein.« Auch Privates erfahren die Teilnehmer: Ob sie getauft sei? »Nein, aber Glauben kann für mich nicht nur im Rahmen von Institutionen praktiziert werden.« Am liebsten würde sie in den Löwenhäusern wohnen, ein schicker Altbaukomplex auf einer ehemaligen Kiesgrube. Ihr Glück: Eine Teilnehmerin der Tour wohnt dort und verspricht, Giffey Bescheid zu geben, wenn dort eine Eigentumswohnung frei wird.
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