Europas Erzwungenschaften

Volker Braun: neue Gedichte und »Die Griechen« - ein neues Stück am Berliner Ensemble

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 6 Min.

Er ist ein aufgewühlter Bruder Georg Büchners. Er ist der deutsche Dichter, der dem globalisierten Woyzeck die Ruhe des schmerzfreien Grabes unter den Wunden wegreißt. Volker Braun. Vor Jahren veröffentlichte »neues deutschland« exklusiv sein Gedicht »Inbesitznahme der großen Rolltreppe durch die Medellíner Slumbewohner am 27. Dezember 2011«. Eine Treppe für jene, die über der Stadt in Abgründen hausen. Die Treppe als Hilfe für die Schwachen - aber was dem erbärmlichen Leben in den Hütten trotzdem genommen bleibt an Chance, an Gerechtigkeit, das rollt keine Treppe weg. So erzählt diese Treppe, so erzählt das Gedicht vom modernen Sisyphos, der die Welt für geregelt hält: Er wälzt nicht mehr den Stein, er verweist karitativ auf die Automatik nach oben. Rolling home. Was da auffährt, auf gespendeter Himmelsleiter - wird es herabkommen eines Tages? Und als Reich der Armen über die Reichen kommen?

Das Gedicht ist enthalten im neuen Lyrikband von Braun, »Handbibliothek der Unbehausten«. Weltbeobachtungen vor abgesunkenem Glückshorizont, »während der Sklaverei, die uns ernährt«. Brauns Werk senkt den Kopf, hinunter in die Gruben der Baustellen, wo die Gründe ausgehoben werden - für den nächsten fundamentalen geschichtlichen Irrtum? Gehen, gehen, gehen, und immer noch nichts sehen vom Gipfel? Gut so, wir müssen endlich merken, dass es in die Tiefe geht. Des nächsten Abgrundes. Die Verse des neuen Buches, das Gedichte aus zehn Jahren versammelt, sind letztlich Botschafter des Unkrauts: »Aus beinahe Nichts sintert es sein festes Grün.« Das ist Hoffnung: Hinter der Ohnmacht dünnster Stelle reibt sie sich an einer Angst, die überwunden werden könnte. Wann überwunden? Nie, jetzt, morgen, nie. In einer Zeit vielleicht, wie Volker Braun einst für Stephan Hermlin schrieb, da »die Waffen wieder Stein sein« werden, »und die Vernunft wird Worte brauchen«.

Steine? Ja. Aber nicht nur Waffen, auch Wahlinstrumente: Erinnerung an die Stimmsteine, mit denen die alten Griechen ihr Wahlrecht ausfüllten. Der Fels der frühen Demokratie: heute Geröll. So heißt es in Brauns Stück »Die Griechen«, uraufgeführt auf der Probebühne des Berliner Ensembles, Regie: Manfred Karge, Bühne und Kostüme: Beatrix von Pilgrim. Kein Stück, eher ein monologisches Langgedicht. Die Eurokrise am Fuße der Akropolis. Papandreous Volksabstimmung; Verweigerung des Schuldenschnitts als Schnitt ins Fleisch Europas; Tsipras und Varoufakis; die Medien als Einflüsterer eines zeitgeistzynischen Spannungsbogens; der Totengräbertanz der Troika; die Geber als Götter der Erpressung. Braun zwingt das Akute ins hohe Wort, das sich bei Aischylos und Euripides und Hesiod den tragenden Atem holt.

Das griechische Trauerspiel auf weiß ausgeschlagener Bühne, davor Stühle, neun Spieler in Smoking, vier Spielerinnen, ein Chorleiter (Tobias Schwencke), also hauptsächlich chorisches Oratieren, garniert mit den Klischeetönen des Sirtaki. Minimale Zeichen fürs Monstermemorial: weiße und rote Handschuhe; des Ex-Finanzministers Motorradhelm; Schäuble als Minotaurus, sitzend, stierhörnig, mit jenen Scherenhänden, die die Welt in Arm und Reich schneiden.

Brauns Dramatik wie seine Gedichte: Bild auf Bild, nach jedem Spruch der Wider-Spruch, Sprache offenbart ihren Konzentrationstrieb. Wie geht’s weiter?, fragt der Stoff, wie geht’s noch dichter?, fragt der Vers zurück. Und widersetzt sich einer Verständlichkeit, die sich von selbst versteht. Erst das Geformte ist diesem Dichter mundgerecht. Dichtung als Denkraum, der überfordern will. Was sonst. Die Gedichte im neuen Band wandern durch China, gehen in Museen, stehen auf dem Markt von Lviv (»Ihr Bäume, Juden, habt es überlebt«), und aus der schlichten Beobachtung, dass wir beim Gewitterblitz die Augen schließen, erhebt sich die weitgreifende Assoziation, wie wir uns immer wieder mit Blindheit schlagen, um uns durch die Zeit zu schlagen: »Die Gegenwart/ Tritt in das grelle Licht/ Geschlossenen Augs«.

In den Arbeitsnotizen zu seinem Stück »Die Griechen« schreibt Braun von zwei Mythen: »Das Recht des Volkes, seine ungeborene Freiheit/ Die Macht des Marktes, unsterblich wie seine Gesetze«. Papandreou erscheint als der Grieche, dessen eigentliche Tragödie darin besteht, nicht das Format zum Tragöden haben zu dürfen. Karge hat das betont sparsam inszeniert, im zweiten Teil des anderthalbstündigen Abends wird der Streik der vierhundert Athener Putzfrauen gegen ihre Entlassung zum Thema. Swetlana Schönfeld als besenschwingender Prototyp: Trotztante mit Tribuninnen-Timbre, das hat eine plebejische Kante - freilich ergibt alles, was hier gesprochen wird, kein Drama im klassischen Sinn.

Spielmöglichkeit hat neben Schönfeld vor allem Joachim Nimz als Papandreou und dann als Schäuble. Das Ganze ist ein präzis jagender szenischer Kommentar, in dem immer wieder das bezwingende Wortspiel verblüfft: etwa wenn von den europäischen »Erzwungenschaften« die Rede ist, oder wenn es da heißt, das Volk stünde ungeduldig an, »am Geldschlitz, der Vulva der Banken«. Im Gedichtband fragt Braun: »Was sind wir noch zum Schein, was sind wir schon?« und beleiht Goethe: »Willkommen und Abschiebung«.

Und wie Braun uns das alles schon vor-spielte! »Limes. Mark Aurel«: Uraufführung vor Jahren in Kassel. Mark Aurel, der Philosoph auf dem Kaiserthron: Er will einverstanden sein mit allem, was kommt. Was kommt, ist das Fremde, es kommt von draußen - und es verführt den Politiker, der an seine Grenze will, die Grenzen enger zu ziehen. Denn als Regierender ist er zur Grausamkeit der Reichssicherung verpflichtet - wer will schon enden wie Antonin, Ziehvater dieses Mark Aurel: »Seine Zeit wird als geschichtslos bezeichnet, denn er beging kein Verbrechen.«

Braun nun wieder, nach sehr langer Zeit, am Berliner Ensemble. Und damit Erinnerung an die DDR: an jene von Kontrolle und Zensur und Misstrauen zernervte Entstehungsgeschichte mehrerer seiner Stücke. Braun als Beispiel für ein Dramatikerleben auf der Zerreißprobebühne: Kunst im Aufbruch kann eben auf Dauer nicht an sich selbst glauben und zugleich an den Beifall einer Macht, die als Agentin des nächsten geschichtlichen Ruins auftritt.

Dieser Dichter war in seinen Texten nie ein Tragiker, er ist ein Problematiker. Für nichts weniger entsteht Poesie, so darf Braun verstanden werden, als für eine neue Weltverfassung. Die verteidigt, was es nie gab. Emanzipationswerkstatt für einen Materialismus, der immer Material bleibt. Das Gegenteil von Beton. Er sieht sich »in der Schuld aller Orte, die verloren sind«, wie es seinem aufwühlenden Essay »Ein Ort für Peter Weiss« heißt. Wie verloren sind wir selber in der Watte unseres Wohlstandes? Fragt dieser Anarchist mit weichem Ton und leisem Gang. So sah man ihn auch wieder, als er im BE scheu vors Premierenpublikum trat. Der Feine - aber robust wie ein Bagger, wenn er schreibt. Gegen das ausgehöhlte Rollenspiel des öffentlichen Handelns und gegen die skeptisch-zynischen Tiefen des privaten Bewusstseins. Den Tod bedichtend wie den Enkel. Die Wildnis der Natur so heiter besprechend wie arg betrübt die Wildnis der Gesellschaft. Seine Dialektik, im Vers: »So vollbring ich mein Verhängnis/ und erleide mein Gelingen.« Seine Einsicht, im Stück: »Geschichte, die ins Leere läuft, meine Lebenszeit«. Aber die Hoffnung, sie kann uns im Werk dieses Großen doch näher und näher kommen. Denn sie ist uns eine Fremde geworden.

Volker Braun: Handbibliothek der Unbehausten. Neue Gedichte. Suhrkamp. 110 S., geb., 20 €. Nächste Aufführungen »Die Griechen« am BE: 21. September; 1., 2. Oktober

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