Rolf Dieter Brinkmann: Die Augen gehen auf

Weitermachen, eigene Wege gehen: Vor 50 Jahren starb der Underground-Literat Rolf Dieter Brinkmann

  • Jonas Engelmann
  • Lesedauer: 6 Min.
Rolf Dieter Brinkmann: »Underground bedeutet zunächst einmal ein allgemeines Verhalten.«
Rolf Dieter Brinkmann: »Underground bedeutet zunächst einmal ein allgemeines Verhalten.«

Mit dir / in ein anderes Blau / wir teilen einen Traum», hat Jochen Distelmeyer 1999 im Blumfeld-Song «Tausend Tränen tief» gesungen und damit die nachhaltige popkulturelle Wirkung des 1975 verstorbenen Kölner Autors Rolf Dieter Brinkmann deutlich gemacht. Der hatte 1975 in seinem letzten Gedichtband «Westwärts 1 & 2» geschrieben: «Wer hat gesagt, daß sowas Leben / ist? Ich gehe in ein / anderes Blau». Das «andere Blau» bei Brinkmann, das Distelmeyer hier zitiert, ist ein Raum jenseits der Enge des Alltags, jenseits von Zwängen und Erwartungen, eine Schnittstelle zwischen privaten und gesellschaftlichen Utopien. Ebenso wie der Blumfeld-Sänger hat Brinkmann für seine Literatur in Anspruch genommen, in der Beschreibung des Privaten auf größere gesellschaftliche Zusammenhänge zu verweisen.

«Die Geschichtenerzähler machen weiter, die Autoindustrie macht weiter, die Arbeiter machen weiter, die Regierungen machen weiter, die Rock’n’Roll-Sänger machen weiter», hat Brinkmann in der Vorbemerkung zu «Westwärts 1 & 2» geschrieben, «der Mond geht auf, die Sonne geht auf, die Augen gehen auf, Türen gehen auf, der Mund geht auf, man spricht, man macht Zeichen». Als das Buch im Mai 1975 erschien, war der 1940 geborene Brinkmann nicht mehr am Leben, am 23. April 1975 hatte ihn während einer Lesereise in London ein Auto erfasst. Das Weitermachen musste nun ohne den Lyriker stattfinden, der sich nach mehrjähriger Pause gerade erst wieder zu Wort gemeldet hatte.

«Das Geld macht weiter, und die Zusammenbrüche, wie die Songs weitermachen», heißt es weiter in «Westwärts 1 & 2», das anlässlich seines 50. Todestages nun, ergänzt um Gedichte aus dem Nachlass, neu aufgelegt wurde. «Leider kann ich nicht Gitarre spielen, ich kann nur Schreibmaschine schreiben, dazu nur stotternd, mit zwei Fingern. Vielleicht ist mir aber manchmal gelungen, die Gedichte einfach genug zu machen, wie Songs, wie eine Tür aufzumachen, aus der Sprache und den Festlegungen raus.» In diesem Vorwort steckt eigentlich alles, was Brinkmann in seiner kurzen Laufbahn als freier Schriftsteller in Gedichten, Essays, Materialsammlungen und einem Roman programmatisch umsetzen wollte: Raus aus den Festlegungen, aus der Sprache, den Gattungseinteilungen, den Geschlechterrollen, gleichzeitig sollte der Graben zwischen Hoch- und Popkultur eingeebnet werden.

«Rolf Dieter Brinkmann will sich selbst immer wieder seine Leidenschaft gegen das Eingefahrene beweisen. Er will ja auch gar nicht fahren. Im Kampf um die Verwirklichung seiner Leidenschaft erhebt sich sein Werk (und kickt sofort den Stuhl hinter sich weg), das gegen jeden Sitzplatz im Gemütlichen oder auch nur Gewöhnlichen aufbegehrt», hat Elfriede Jelinek einmal über den Autor geschrieben, der in seiner Literatur auch die Grenze zwischen Kunst und Leben eingerissen hat: Fotos seiner Wohnung und seiner Lebenswelt finden sich neben seinen Gedichten, Essays zwischen Autobiografie und literarisch-popkulturellen Reflexionen durchziehen sein Werk. Diese Lebenswelt und dieses Leben kann man in der ebenfalls anlässlich des 50. Todestages erschienenen Brinkmann-Biografie von Michael Töteberg und Alexandra Vasa erkunden, das im Titel – obwohl es weniger auf das literarische Werk als vielmehr auf die biografischen Stationen abhebt – wiederum auf das Weitermachen und die Überschreitung hin zur privaten und gesellschaftlichen Utopie verweist: «Ich gehe in ein anderes Blau».

«Man kann so soviel besseres machen, als beispielsweise lange an einem Gedicht herumzubosseln – in der Stadt herumgehen, Zeitung lesen, ins Kino gehen, ficken, in der Nase bohren, Schallplatten hören, mit Leuten dumm herumreden …», hat Brinkmann in Anmerkungen zu seinem Gedicht «Vanille» geschrieben. Diese programmatische Äußerung fasst das im Blau aufscheinende zentrale Thema seines Werkes zusammen: das Verhältnis von Leben und Schreiben. Seine Suche nach einer neuen Form von Literatur außerhalb vorgegebener Sinnmuster, nach einer Literatur der unmittelbaren Präsenz, setzte auf eine Verwendungsweise von Sprache, die auf die tagtäglich zu machende sinnliche Erfahrung reagierte.

Brinkmann ging es schon in seinen frühen Gedichten darum, Alltagserfahrungen als Schnappschuss festzuhalten. «Man braucht nur skrupellos zu sein, das als Gedicht aufzuschreiben. Wenn es dieses mal nicht klappt, wirft man den Zettel weg, beim nächsten mal packt man es dann eben, etwas anderes», notierte er einmal. Auch Frank Schäfer hebt in seinem zum 50. Todestag verfassten «Zettelkasten» zu Rolf Dieter Brinkmann die «enorm kunstfertigen Schnappschüsse aus dem Alltag» hervor, «profane Epiphanien, die den lyrischen Stil der Siebziger maßgeblich prägen werden». Brinkmann wollte die herausgehobene Position des Künstlers in der Gesellschaft untergraben und durch die bewusste Einbeziehung von Alltagsbeobachtungen und Trivialliteratur – Pornografie, Western und Science Fiction, wie es der von Brinkmann hochgeschätzte Leslie A. Fiedler in seinem Aufsatz «Cross the border – close the gap» vorgeschlagen hat – seine Vereinnahmung durch den Kulturbetrieb verhindern.

«Bekannte literarische Vorstellungsmuster verwischen sich: der Raum dehnt sich aus, veränderte Dimension des Bewusstseins. Das Rückkopplungssytem der Wörter, das in gewohnten grammatikalischen Ordnungen wirksam ist, entspricht längst nicht mehr tagtäglich zu machender sinnlicher Erfahrung», notierte Brinkmann schon 1969 in seinem Essay «Der Film in Worten». Die neuen sinnlichen Erfahrungen durch Werbung, Fernsehen, Musik und andere Medien erforderten eine neue Form von Literatur, so Brinkmann, eine Erweiterung der vorhandenen Formen und das Verlassen der Idee der «üblichen Addition von Worten», stattdessen gehe es darum, «Vorstellungen zu projizieren».

Dennoch habe Brinkmann «keine unkritische Pop-Affirmation» betrieben, betont Schäfer, der sein Buch weniger als stringente Biografie, sondern als Mischform aus Gedankensammlung, Fotoessay und literarische Annäherung ganz im Sinne Brinkmanns angelegt hat. Brinkmann hat Pop als Kombination von radikaler Gesellschaftskritik und formaler Affirmation verstanden, als Neucodierung und Überschreitung bestehender Grenzen. Dies wurde, wie Schäfer betont, von der zeitgenössischen Kritik, «übrigens gerade auch von links», nicht verstanden. Martin Walser wetterte etwa 1970 im «Kursbuch» gegen den «schick zeitgenössisch frisierten Künstlerquatsch» von Autoren wie Brinkmann oder Handke, mit denen keine Politik zu machen sei.

«Underground bedeutet zunächst einmal ein allgemeines Verhalten – ein persönliches Verhalten, das sich abgesetzt hat von dem Verhalten der älteren Generation, die eben permanent sich selbst repräsentieren kann, ein Establishment repräsentieren kann», hat Brinkmann einmal in einem Interview in Richtung von Walser und Co. formuliert. «Und man hat sich davon abgesetzt und geht seine eigenen Wege.» Denn nur unabhängig vom verhassten Kulturbetrieb sah Brinkmann die Möglichkeit, aus eingefahrenen Strukturen und auch der Befangenheit, in nationalen Räumen zu denken, auszubrechen. So war der Weg nach Westen, in die USA, der im Gedicht «Westwärts» beschrieben wird, auch ein Moment der Befreiung: «Auf einmal, da war ich, an dieser Stelle, in meinem Leben … Ich schaute auf das Flugfeld und hatte plötzlich das Gefühl, ich hatte keine Vergangenheit mehr.»

Rolf Dieter Brinkmann: Westwärts 1 & 2. Gedichte. Rowohlt 2025, 448 S., geb., 52 €.
Frank Schäfer: Rolf Dieter Brinkmann. Ein Zettelkasten. Verlag Andreas Reiffer 2025, 160 S., geb., 18 €.
Michael Töteberg/Alexandra Vasa: Ich gehe in ein anderes Blau. Rolf Dieter Brinkmann – eine Biografie. Rowohlt 2025, 400 S., geb., 35 €.

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