Autonomer Vormarsch
Andreas Koristka über selbstfahrende Lkw, computergesteuerte Politik und künftige handfeste Mehrheiten bei Wahlen
In zehn Jahren wird es so weit sein. Dann werden laut einem Bericht des Qualitätsmediums »Spiegel Online« Lkw autonom fahren können. Für Hunderttausende von deutschen Brummifahrern bedeutet das, dass sie ohne jegliche Aufgabe an den Autobahnraststätten in ihren ausgemusterten Böcken gemütlich in den Tag hinein leben werden. Niemand wird mehr die halsbrecherische Aufgabe auf sich nehmen müssen, einen Opel Corsa am Stauende zu pulverisieren oder sich während der Fahrt in seinem 18-Tonner die Fußnägel zu schneiden, während er mit der anderen Hand einen Kubik’s Zauberwürfel und ein Pornoheftchen bedient.
Ein Gedanke, der die Fantasie geradezu beflügelt wie eine auf ex getrunkene Schnapsflasche aus dem Sortiment einer Rastplatz-Tankstelle. Denn was für Lkw-Fahrer gut genug ist, kann für die Politik nicht schlecht sein. Schon heute klagen viele Berufspolitiker über die relativ schlechte Bezahlung ihres 168-Stunden-Jobs. Keine Freizeit, erhöhter Alkoholkonsum und Frisuren wie die von Winfried Kretschmann sind die traurigen Begleiterscheinungen eines Berufes, den kaum einer mehr ausüben möchte. Es wäre zu schön, wenn es ihn in einigen Jahren gar nicht mehr geben würde und die Politik dank computerbasierter Systeme autonom durchregieren könnte.
Aber das ist alles noch Zukunftsmusik. Sicherlich, weniger komplexe Modelle wie Horst Seehofer können selbstverständlich schon heute realisiert werden. Für ihn benötigt es nur einen Pool aus unrealistischen Quatschforderungen und eine Zufallsfunktion, die im Monatswechsel beharrlich eine dieser Forderungen vertritt.
Auch eine Angela Merkel wäre leicht zu programmieren und könnte somit ewig herrschen. Das würde der hiesigen Presse entgegenkommen, die sich eine Regierung ohne die Kanzlerin gar nicht mehr vorstellen kann. Aussitzen und alle zwei Jahre eine politische Kehrtwendung um 180 Grad als Reaktion auf irgendeine Meinungsumfrage sind für IT-Spezialisten jedenfalls keine große Herausforderung.
Schwieriger gestaltet sich da schon Sigmar Gabriel. Es fällt schwer zu sagen, was dieser Mann eigentlich macht. Etwas Zufälliges liegt in seiner Politik, das hat er mit Horst Seehofer gemein. Aber er ist dabei viel kreativer als der Bajuware, der seine politischen Inhalte einfach von der AfD und Münchner Bahnhofsirren übernimmt. Komplexe aus mehr als 120 Jahren Sozialdemokratie vermengen sich dagegen in Sigmar Gabriels mächtigem Körper mit einem ordentlichen Hauch realcholerischen Gestaltungswillen. CETA ist gut, TTIP ist schlecht. Nazis in Niedersachsen zeigt er den Stinkefinger, Horst Seehofer duzt er freundlich. Manuela Schwesig findet er super, Andrea Nahles auch. Diese Paradoxe können selbst die besten Programmierer des Silicon Valley derzeit noch nicht durchschauen.
Doch es heißt dranbleiben! Denn die Hoffnung auf die computergesteuerte Politik ist zu verheißungsvoll. Nachdem die Politiker ersetzt wurden, könnte es nämlich auch die Wähler treffen. Dann wird nicht mehr so ein Scheiß wie in Mecklenburg-Vorpommern und Berlin zusammengewählt, sondern vernünftige handfeste Mehrheiten, die einen ordentlichen politischen Gestaltungsraum zulassen und trotzdem im Sinne aller liegen. Dann ist auch endlich Schluss mit dem ganzen unproduktiven Gemecker und die 5000 Talksendungen und Tagesthemen-Kommentare im Öffentlich-Rechtlichen bräuchte es nicht mehr.
Wir könnten uns wieder darauf konzentrieren, was wirklich wichtig ist und anderen Tätigkeiten nachgehen wie Mallorca-Urlaub, Pokémon Go-spielen oder Zwölftonmusik komponieren. Niemand bräuchte sich mehr über die AfD aufregen, weil deutsche Rassisten sowieso konsequent mit 70 Prozent in deutschen Parlamenten repräsentiert werden würden. Eine wunderbare Vorstellung. Nur den arbeitslosen Kraftwagenfahrern wird auch das nichts nützen.
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.