Für Solidarität ist kein Platz
Was Fernfahrer über die Geflüchteten im Jungle von Calais denken
Tag vier. Es wird ein anstrengender Tag werden, obwohl wir keine Minute als Volunteers im Warehouse arbeiten werden. Wir haben beschlossen, uns heute frei zu nehmen, um endlich einen Teil der Interviews zu führen, die im Rahmen unserer Recherchen über die zunehmend konfliktive Situation in und um Calais geplant waren. Unser Vorhaben führt uns zu Shelly*, einer Volunteer, die im Warehouse-Management assistiert und damit in einer gehobenen Position bei l’auberge des migrants arbeitet. Außerdem sprechen wir mit Fernfahrern an einem Truckstop neben der Autobahn, die - am Jungle vorbei - zum Eurotunnel führt.
Wir treffen einen spanischen Fernfahrer, der ein Grundverständnis gegenüber der Lage der Geflüchteten am Ärmelkanal äußert und dennoch die Auflösung des Jungles fordert. Wir fragen uns, ob seine Perspektive unter anderen sozialen Umständen solidarischer ausgesehen hätte. Denn er steht selbst unter Druck in seinem Job, seitdem er durch die Beschäftigung rumänischer und bulgarischer Kollegen vor die Wahl gestellt wurde: Lohnsenkung oder Kündigung. Wir kommen mit Griechen ins Gespräch, deren einzige Sorgen nicht die Geflüchteten im Jungle sind, über die sie selbst auf Nachfrage kein Wort verlieren, sondern die gebührenpflichtige Rastplatzsituation und das Verhalten der Polizei in Deutschland.
Ein ungarischer Trucker, der seine Spedition mit seiner Frau betreibt und gerade Nestlé Cornflakes von Spanien nach England transportiert, spricht mit uns in bruchstückhaften, aber doch klarem Deutsch, wirkt aufgeschlossen und berichtet uns glaubwürdig von seinen Ängsten wegen der Strafen, falls die englische Polizei Refugees in seinem LKW entdeckt. Er muss die Nacht am Truckstop verbringen, wird aber wohl kaum eine Minute ruhig schlafen. Für die Lösung der Probleme sagt er, müsse man sich an seinem Heimatland orientieren. Und dennoch hinterlässt er bei uns einen sympathischen Eindruck. Er ist ein Rädchen im Getriebe eines europäischen Grenzregimes, das die Verantwortung für die Kontrolle der Binnengrenze zunehmend individualisiert, indem die Aufgabe der Sicherung von LKW’s auf die Spediteure umgelegt wird. Wir verabschieden uns mit einem Lächeln, wünschen eine gute Fahrt und fragen uns schließlich, warum überhaupt.
Eine Stunde vorher hatten wir noch den beiden Geflüchteten viel Glück gewünscht, die hinter das Führerhaus eines LKWs geklettert sind, der gerade betankt wurde. Da heute kaum Polizeieinheiten auf der Raste verkehren, ergreifen einige ihre Chance. Wir fragen uns, woher sie wissen, welches Fahrzeug tatsächlich England ansteuert. Überhaupt sind wir überrascht, eine Menge Trucker zu treffen, die heute in diese Richtung fahren und hier kurz vor dem Jungle eine Pause einlegen. Schließlich erhalten die meisten Fahrer von ihrer Firma die Auflage, 150 km vor Calais keine Pause mehr einzulegen. Schließlich trinken wir mit einem vor vielen Jahren eingereisten Rumänen, der jetzt in England lebt und für eine irische Spedition fährt, einen Cappuccino.
Die eigene Migrationsgeschichte hält ihn nicht davon ab, ebenfalls auf die ungarische Lösung zu verweisen. Er redet wohlwollend vom Durchgreifen der Polizei und vom vermeintlichen Schießbefehl an europäischen Außengrenzen. Eine Mauer, wie sie England in Calais bauen möchte, sei zwecklos, solange die Polizei nicht mit den nötigen Befugnissen ausgestattet werde. »In hungary they have got the authority. If they are close the wall they will shoot them.« Manche von uns können jetzt nicht mehr distanziert bleiben, verlassen ihre fragende Perspektive und fangen an, zaghaft zu diskutieren, doch schon muss er weg. Wir wünschen ihm, wie allen anderen auch, den Refugees und den Fernfahrern aus allen Himmelsrichtungen des europäischen Kontinents, ob in Gedanken oder am Ende eines Gesprächs, einen »good ride«. Und doch wissen wir, dass sich dieser Wunsch für alle gleichzeitig kaum einlösen lässt.
Unseren Recherchen zufolge drohen den Fernfahrern im Falle einer Kontrolle, bei der sie mit Geflüchteten auf der Ladefläche erwischt werden, bis zu zwei Tage Haft und ein Monat Fahrverbot für den LKW sowie Geldstrafen bis zu 2000 Britischen Pfund. Den Geflüchteten, die allnächtlich, wenn nicht schon auf französischer, so spätestens auf britischer Seite, aufgegriffen werden, droht im besten Falle der Rücktransport, manchmal auch Internierung. Einige bezahlen mit dem Leben. Am Freitagmorgen starb ein 14-jähriger Junge aus Afghanistan beim Versuch, einen LKW in Richtung Eurotunnel zu erklettern. Es handelt sich um den zwölften Toten auf der Autobahn in Calais im Jahr 2016. Der Junge hatte infolge des »Dubs Amendment« bereits einen legalen Aufenthalt zugesichert bekommen, allerdings arbeiteten die Behörden so langsam, dass er auf eigene Faust die Überfahrt versuchte.
Die Stimmung nach den Gesprächen mit den Truckern ist bedrückend. Wir erwarteten keine Schaufenster-Proletarier, die sich der Verschränkung ihrer eigenen sozialen Lage mit der Unterdrückung anderer bewusst sind und gegen sie ankämpfen. Selbstverständlich waren wir auch gefasst auf rassistische Phrasen. Und doch blieb für uns die Frage, inwieweit nicht eine Grundempathie mit dem Leiden der Jungle-Bewohner_innen vorhanden sein würde und ob nicht Wut darüber herrscht, von Behörden und Speditionen zur Kontrolle ihrer Trucks an den Grenzen gezwungen zu werden. Und schließlich, ob sich nicht beides verbinden könnte zu einem Gefühl der Solidarität und der Opposition gegenüber ihren Arbeitsbedingungen und dem Migrationsregime. Die Realität ist enttäuschend.
Zurück zu Shelly*, der assistierenden Warehouse-Managerin. Ihr Engagement ist beeindruckend, ihre Begeisterung authentisch. Wir sind erst vier Tage hier und teils genervt von der Arbeit. Sie seit zwei Monaten und sie wird noch zwei weitere bleiben - stets mit einem Lächeln am Ende jedes Gesprächs. Für Politik interessiere sie sich nicht, nur die humanitäre Notlage der Geflüchteten habe sie nach Calais zu den Hilfsorganisationen gebracht, bei denen sie hofft, nach ihrem Aufenthalt hier weiter arbeiten zu können. Ob sie ambivalente Gefühle habe, bei einer möglichen Räumung des Jungles die Bewohner_innen - wie beim letzten Mal - zum Verlassen ihrer Hütten aufzufordern; und damit der Polizei die Arbeit abzunehmen, fragen wir sie schließlich? Doch unter einem humanitären Aspekt sei es ihre Aufgabe, zu verhindern, dass diese Menschen verletzt werden. Vermutlich besteht hier die Grenze zwischen Charity und Politik, die man zum Wohl der Menschenleben im Jungle doch nicht einreißen möchte.
Gesetzt den Fall, es gäbe eine politische Artikulation von den Menschen da drinnen im Jungle, wüssten wir nicht, wer sie draußen unterstützen sollte.
*Name wurde geändert
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