»Ohne die in Madrid geht es auch«

Ob Galicien, Andalusien oder Katalonien: Bei allen Unterschieden ist der Ärger auf die Zentralregierung groß

  • Jörg Hafkemeyer
  • Lesedauer: 8 Min.

Es ist ein noch früher Morgen. Nebel hängt an diesem Samstag über dem alten Hafen und der Stadt an der äußersten Nordwestspitze Spaniens. Die Umrisse eines einlaufenden Fährschiffes sind zu erkennen. Rückwärts schiebt es sich an den Anleger, macht fest, öffnet die Heckklappe, die ersten Lkw fahren die Rampe herunter den Hang hinauf in die Altstadt von La Coruña. Es ist kurz nach sieben Uhr. Die kleine Bäckerei in der ersten Querstraße oberhalb des Hafens hat gerade aufgemacht. Das Café an der Ecke auch. Drei ältere Männer schlürfen ihren ersten Cortado, den starken, schwarzen Kaffee mit einem Schuss Milch. Vor sich die örtliche Zeitung »La Voz de Galicia«. Die haben sie bei der alten Teresa gegenüber gekauft. Teresa verrät ihr Alter nicht, steht gebeugt neben einer uralten Registrierkasse in ihrem engen Laden, verkauft ein bisschen Gemüse, Milch, ein paar Konserven, Käse und Tageszeitungen. Die liest sie schon lange nicht mehr, murmelt sie. Radio höre sie auch nicht. Ein Fernsehgerät hat sie nicht: »Meine Kunden erzählen mir, was ich wissen muss.«

Die Schlagzeile der örtlichen Zeitung führt bei den drei alten Männern im Café zu einem ungläubigen, fast verächtlichen Kopfschütteln: In Spanien wird voraussichtlich im Dezember das dritte Mal innerhalb eines Jahres gewählt. Die Parteien in Madrid können sich nicht auf eine Regierungskoalition einigen. Beschuldigen sich gegenseitig der Unfähigkeit zum Kompromiss. María, die später im Laufe des Tages Touristen durch die Altstadt führen wird, ist hinzugetreten, trinkt einen schwarzen Kaffee, schaut auf die Schlagzeilen und meint mit einem verzweifelten Lächeln, es gehe ja auch ohne die in Madrid. Die Alten nicken. Gallegos, so bezeichnen sich die Einwohner Galiciens, sind zurückhaltend und stolz, auch wild. Von den Madrilenen halten sie nicht viel. Arrogant, machtbewusst seien die, das sei von jeher so gewesen. Nicht nur heute, auch in der Monarchie und auch während der Franco-Diktatur.

Vergessen ist die nicht. Richtig bearbeitet auch nicht. Große Teile der galicischen Bevölkerung sind nach dem Ende des Bürgerkriegs 1939 ins Exil gegangen. Die meisten nach Argentinien, vor allem nach Buenos Aires. Zu der argentinischen Hauptstadt haben viele Familien im spanischen Nordwesten nach wie vor enge Beziehungen, fast 80 Jahre nachdem die Metropole am Río de la Plata Ziel für die galicischen Flüchtlinge war.

Viele sind nach dem Tod Francos aber auch nach Galicien zurückgekehrt und heute leben rund 2,8 Millionen Menschen in dieser wilden Provinz mit seinen zerklüfteten Küsten zwischen La Coruña, Lugo, Orense, Vigo und Santiago de Compostela. Das ist die zweite Hauptstadt der katholischen Weltkirche und in den Sommermonaten die Hauptstadt des katholischen Tourismus. Die Gallegos ertragen den religiösen und geschäftlichen Rummel mit einer Art fröhlicher Gelassenheit und betrachten die Touristenmassen mit einem nachsichtigen Lächeln. Im Übrigen machen sie mit ihnen Geschäfte. Keine schlechten. Gute Geschäftemacher sind sie ohnehin, das zeigte sich vor allem in den 80er Jahren, als die Atlantikküste Galiciens die Region war, über die die kolumbianische Drogenmafia in Cali und Medellín unbekannte Mengen Kokain nach Europa einschleuste, vor allem nördlich von Pontevedra. Die Küste hier ähnelt der schottischen oder der norwegischen Atlantikküste. Sie war zu jener Zeit kaum zu überwachen, schon gar nicht zu kontrollieren. Die Kartelle in Kolumbien wurden unvorstellbar reich, die örtlichen Organisationen in der Illegalität wohlhabend.

Die Zeiten sind längst vorbei. Sie scheinen so etwas wie versteckte Kapitel in der Geschichte Galiciens zu sein. So wundert es auch nicht, dass in La Coruña weder María noch die drei Alten sich darauf ansprechen lassen. Tiempos pasados. Vergangene Zeiten, lächeln sie. Und das Kokain werde ja auch über das westafrikanische Guinea aus Südamerika kommend nach Europa gebracht. Die Gallegos fischen keine Kokainbeutel mehr aus ihren Küstengewässern. Es sieht so aus, als wenn sie es auch nicht mehr brauchen. Die Region - eine von 17 in Spanien - macht einen gut organisierten Eindruck, seit zwei Jahren geht es wirtschaftlich wieder aufwärts, die Jugendarbeitslosigkeit ist gesunken. Es wird besser, glaubt María, egal was die in Madrid machen.

In dieser Hinsicht unterscheiden sich die Menschen in Galicien nicht von denen in Andalusien, das im Süden des Landes an der Mittelmeerküste liegt. Malaga ist die Hauptstadt der Costa del Sol und Malaga ist die Hauptstadt der russischen Sommertouristen und Residenten.

Malaga ist vor allem die Stadt, in der Pablo Picasso geboren wurde. Das ist vor 135 Jahren gewesen. Das Museo Picasso zeigt eine einzigartige Sammlung von 204 Werken dieses großen Spaniers, die nur in diesem palastartigen Haus gezeigt und nicht verliehen werden dürfen. Es ist hell und still, die Räume sind hell und still, der Patio, der Innenhof, ist es auch. Im Schatten sitzt eine Schulklasse. vierzehn-, fünfzehnjährige Jungen und Mädchen. Sie hören aufmerksam ihrem Lehrer zu, machen sich Notizen. Esteban ist ein schlanker, hoch gewachsener Mann, etwa Ende 20. Er erzählt über diesen einzigartigen Ort und über diesen einzigartigen Künstler, vor allem über dessen Leben und seine Arbeiten. Dann macht er erst einmal eine Pause, bevor es hineingeht in die Ausstellungsräume.

Die Situation für junge Leute sei in Malaga nicht gut. Er schaut nachdenklich. Sehr viele seien wirklich gut ausgebildet, doch würden sie deutlich unter ihrer Qualifikation beschäftig, als Hilfsköche, als Verkäufer, als Reinigungspersonal oder als Zimmerservice. Die meisten mit Zeitverträgen und auch nicht wirklich gut bezahlt. Die Arbeitsverträge liefen zu 80 Prozent nicht länger als zwölf Monate und viele, sehr viele der rund 246 000 Jugendlichen in Malaga zwischen 16 und 29 Jahren sind davon betroffen. Esteban weiß, dass es ihm gut geht. Viele seiner Altersgenossen können das über ihre Lage nicht sagen und viele wollen weg, nach Deutschland. Die Jugendarbeitslosigkeit in Spanien ist bestürzend hoch. Genaue Zahlen gibt es nicht so richtig. Das Interesse der amtierenden konservativen Regierung in Madrid, sie zu publizieren, ist nicht sehr groß.

Malaga ist eine reiche Stadt mit vielen Baustellen, wirtschaftlichen Problemen und sichtbarer Armut. Die Calle Pedro de Mena ist eine enge Gasse, gar nicht weit von der zentralen Plaza de la Constitución, dem prachtvollen Zentrum der Stadt. Der Mann, der im Schneidersitz mit gebücktem Rücken und einer tief ins Gesicht gezogenen Mütze da hockt, bettelt. Eine Plastikschale steht vor ihm. Kein Schild, kein Zettel, kein Hinweis, nichts. Er hockt da, in seinen grauen, abgewetzten Klamotten. In den beiden Bars in unmittelbarer Nähe wissen die Gäste, dass es ihn gibt. Über ihn wissen sie nichts.

Sie werfen ein paar Münzen in seine Schale, schauen weg, nehmen einen Trago, ein Getränk, gehen weg. Der Mann spricht nicht, schaut nicht hoch. Irgendwann am Nachmittag sei er weg, am nächsten Morgen wieder da. Er gehört zu dieser kleinen Gasse. Mehr nicht und er ist nicht der Einzige, der im Zentrum Malagas bettelt. In der Straße des Picasso Museums sitzen sie auch. Jüngere und ältere Männer. Keine Frauen.

Die Mittagshitze ist unerträglich. Esteban ist mit seinen Schülern weitergezogen, zeigt ihnen die großen und kleinen Radierungen, Grafiken, Büsten des Mannes, auf den sie in Malaga so stolz sind und der gar nicht lange in dieser Stadt gelebt hat. Und der, das erzählt der Lehrer seinen jungen Zuhörern auch, ein sehr politischer Mann und ein Gegner der Franco-Diktatur gewesen ist. Ohne den Hinweis, dass sein Bild »Guernica« das Gemälde über den spanischen Bürgerkrieg und die mörderischen Luftangriffe der deutschen, Franco unterstützenden Legion Condor bis heute ist. Dreieinhalb mal fast acht Meter ist es groß, es hängt nicht in Malaga, vielmehr in Madrid.

Die Deutschen bombardieren und zerstören Guernica mit italienischer Unterstützung im April 1937. Im Dezember, das erschütternde Gemälde ist fertig, sagt Picasso darüber: »Es ist mein Wunsch, sie daran zu erinnern, dass ich stets davon überzeugt war und noch immer davon überzeugt bin, dass ein Künstler, der mit geistigen Werten lebt und umgeht, angesichts eines Konflikts, in dem die höchsten Werte der Humanität und Zivilisation auf dem Spiel stehen, sich nicht gleichgültig verhalten kann.« Fast 80 Jahre ist das her. 1937, der junge Mann, der nach Barcelona kommt, hat eine lange Reise hinter sich und ist 24 Jahre alt: Willy Brandt. Spanien ist im Bürgerkrieg und die gegen Franco kämpfenden internationalen Brigaden werden in zwei Jahren besiegt sein. Picasso hat sich und seine Landsleute immer wieder an diese mörderischen Jahre erinnert. Willy Brandt und George Orwell, die in Barcelona aufeinandertrafen, haben über sie geschrieben.

Die Katalanen haben nicht viel mit den Menschen in Malaga oder denen in La Coruña gemein. Abgesehen von ihrer Liebe zum Fußball und ihrer intensiv ausgeprägten Ablehnung was Madrid betrifft.

Die Casa Bofarull in einer Seitenstraße der Ramblas in Barcelona gibt es seit 1835. Darin ist das Los Caracoles, ein katalanisches Wirtshaus. Es zu beschreiben würde hier den Platz sprengen. Jedoch, es hat eine berüchtigte Bar. Eine offene Küche, enge, über mehrere Etagen führende, verwinkelte Ess- und Schankräume und eine lange Geschichte. Manuel Vázquez Montalban, der 2003 verstorbene große Autor der Stadt, hat hier gegessen und später sein unvergessenes Buch »Carvalho und der Mord im Zentralkomitee« geschrieben. 1981 kommt es heraus. Die spanische Demokratie versucht sich zu organisieren, mit der Hilfe des unterdessen 68-jährigen Willy Brandt, der vor mehr als vier Jahrzehnten zum ersten Mal in Spanien war und der den jungen Felipe González unter die politischen Arme genommen hat. Die jüngeren Männer an der Bar im Los Caracoles aber sprechen über einen Star ihres FC Barcelona, Andres Iniesta, der ein Buch geschrieben hat: »La jugada de mi vida«, Das Spiel meines Lebens. Sie haben Vázquez Montalban natürlich gelesen und Willy Brandt kennen sie auch. Überhaupt mögen sie Deutschland.

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