Linker Schwung statt stagnierende Kräfteverhältnisse

Die Koordinaten nach links verschieben – aber wie? Mit Inhalten. Joachim Bischoff und Björn Radke zur Debatte über die Strategie der Linkspartei

  • Joachim Bischoff und Björn Radke
  • Lesedauer: 10 Min.

Bei den Wahlen zum Berliner Abgeordnetenhaus haben die WählerInnen die rot-schwarze Landesregierung abgewählt. Die beiden sie tragenden Parteien kommen zusammen nur mehr auf rund 39,2 Prozent – ein Verlust von etwa 12,4 Prozent. Wie schon bei den Landtagswahlen im Frühjahr und Anfang September in Mecklenburg-Vorpommern haben die Rechtspopulisten der AfD auch in Berlin ein zweistelliges Ergebnis erzielt und dabei erfolgreich das große Potenzial von NichtwählerInnen für sich aktiviert. Die Wahlbeteiligung ist auch in Berlin mit 66,9 Prozent deutlich (+6,7 Prozent) angestiegen. Die AfD wird für viele BürgerInnen, die sich von der politischen Willensbildung verabschiedet hatten, als Alternative auf die unakzeptable soziale Spaltung wahrgenommen und unterstützt.

Nach einer aktuellen Umfrage des Allensbach-Instituts speist die sich die Unzufriedenheit der Menschen in Deutschland weniger aus der materiellen Situation, als aus der Sorge um die Zukunft. »Die materielle Zufriedenheit wächst, die Sorgen um die Sicherheit des eigenen Arbeitsplatzes bewegen sich auf niedrigem Niveau, aber der Zukunftsoptimismus ist steil zurückgegangen.« Nur 36 Prozent aller Befragten sehen dem kommenden Jahr »mit Hoffnungen entgegen«.

Neben dem großen Zuzug von Flüchtlingen, den Terroranschlägen, internationalen Krisen und Entwicklungen der inneren Sicherheit seien dafür auch allgemeine gesellschaftliche Veränderungen verantwortlich. Konkrete Ängste haben die Deutschen vor Gewalt und Kriminalität, vor einem Anschlag im Inland, vor mehr Flüchtlingen und einer Einmischung der Bundesrepublik in militärische Konflikte.

Untergründiger Trend wachsenden Unbehagens

Trotz vordergründiger positiver Entwicklung der gesamtwirtschaftlichen und der privaten Lage gibt es bei einem Teil der Bevölkerung einen untergründigen Trend des wachsenden Unbehagens über die Zunahmen der sozialen Ungleichheit. Eine deutliche Mehrheit der Bevölkerung bewertet die Unterschiede zwischen Arm und Reich kritisch. 70 Prozent nehmen einen wachsenden Abstand bei Einkommen und Vermögen wahr, zwei Drittel halten die Einkommens- und Vermögensverteilung in Deutschland für ungerecht.

Das 21. Jahrhundert präsentiert sich aktuell in der Berliner Republik als Epoche des Ressentiments. Das Ressentiment, dies zeigt die politische Szenerie in vielen Ländern, nicht nur in Europa und den USA, basiert auf einer Verschiebung: Der bis heute anhaltende Krisenmodus seit der Finanzkrise 2008 hat die Glaubwürdigkeit und Legitimität der politischen Ordnung und ihrer etablierten Akteure infrage gestellt. Die zentralen sozialpolitischen Themen geraten dabei mehr und mehr in den Hintergrund.

In den meritokratisch organisierten Gesellschaften entwickeln die Verlierer die Vorstellung, dass sie das Opfer einer systematischen Umgestaltung durch das Establishment sind. Vermeintlich krempelt die etablierte Politik das Volk völlig um, indem sie viele fremde Menschen den Einheimischen aufpfropft und diese zwingt, die Fremden als eigene anzuerkennen.

Es kämen zu viele Fremde aus einer fremden Kultur, die in unserer europäischen Kultur nicht zu Hause sind. Dieses tiefsitzende Ressentiment entfesselt der Rechtspopulismus. Mittlerweile stimmt mehr als die Hälfte der Deutschen der Aussage zu, dass man seine »Meinung zur Flüchtlingssituation in Deutschland nicht mehr frei äußern« könne.

Gerechtigkeit, Gerechtigkeit, Gerechtigkeit

Eigentlich würde in Deutschland derzeit viel für eine positive Grundstimmung sprechen: So gaben etwa 70 Prozent der Befragten in der Studie an, dass es ihrem Betrieb »gut« oder »sehr gut« gehe. Genauso schätzen 54 Prozent die eigene wirtschaftliche Situation positiv ein. Was die gesellschaftliche Gesamtlage betrifft, halten 79 Prozent der Befragten soziale Gerechtigkeit heute für besonders wichtig. 2009 waren es nur 74 Prozent. Auch beim Thema Chancengerechtigkeit stieg die Zustimmung von 62 Prozent in 2009 auf aktuell 67 Prozent.

Die Wahlergebnisse haben viel mit den Vorstellungen der BürgerInnen von den Kompetenzen der zur Wahl stehenden Parteien für Problemlösungen zu tun. Im Verlauf der aktuellen Legislaturperiode haben die Regierungsparteien deutlich an sachpolitischem Ansehen verloren. Die massiv ablehnenden Einstellungen gegenüber Flüchtlingen und Ausländern, mit denen die AfD punkten konnte, sind indirekt wesentlich mit der ökonomischen Situation der WählerInnen verknüpft.

Das wird nirgends deutlicher als in Sachsen-Anhalt: Während 58 Prozent aller Befragten, die ihre ökonomische Situation als gut einstuften, sagten, dass Sachsen-Anhalt die vielen Flüchtlinge verkraften kann, waren es bei denen, die ihre wirtschaftliche Lage als schlecht bewerteten, nur 19 Prozent. Da ist es dann kein Wunder, dass vor allem auch DIE LINKE unter dem Erstarken der AfD leidet und in ihrer klassischen Rolle als Partei des Protests und der Unzufriedenen eingeschränkt wird.

Zentrales Motiv für die Wahlentscheidung von früheren NichtwählerInnen und AfD-AnhängerInnen ist die Flüchtlings- und Migrationsproblematik. Die unübersehbaren programmatischen Schwächen der etablierten Parteien können den politischen Erdrutsch nicht aufhalten. Auch der Versuch von links, den vermeintlich verirrten WählerInnen mit der Rhetorik von der Obergrenze hinterher zu laufen, beschädigt letztlich nur die Partei selbst. Es macht keinen Sinn in den Wahlkämpfen den Versuch zu wiederholen: Fehlinformationen lassen sich nicht durch Informationen auflösen.

»Die Armen gehen gar nicht so sehr nach rechts«

Letztlich ist es wirkungslos, das tiefsitzende Ressentiment, die Flüchtlinge seien an den miserablen Verteilungsverhältnissen und der wachsenden Weltunordnung schuld, mit der Formel »Wir schaffen das« zurückdrängen zu wollen. Die AfD mit ihrem Führungspersonal – Alexander Gauland, Frauke Petry, Jörg Meuthen – betreibt in ihrem Desinteresse an gesellschaftlichen Sachverhalten die Entfesselung des Ressentiments.

Die Linkspartei hat sich lange Zeit darauf beschränkt, dem vermeintlichen Verlust ihrer WählerInnen-Klientel zugunsten der AfD nachzutrauern. Die vorschnelle Vermutung, dass DIE LINKE in den Augen vieler WählerInnen offenbar Teil des unsozialen Parteienkartells geworden ist, ist nicht überzeugend. Gregor Gysi warnte zu Recht davor, die WählerInnenwanderung von der LINKEN zu den Rechtspopulisten in das Zentrum der Debatte zu rücken. DIE LINKE verliert auch WählerInnen an die Rechtspopulisten. Aber ihre Stimmen holt die neue Rechtspartei überwiegend aus dem NichtwählerInnenbereich und von den Parteien des bürgerlichen Lagers.

Gysi unterstreicht: »Die Armen gehen gar nicht so sehr nach rechts. Eher die, die etwas zu verlieren haben und Angst davor haben, dass es geschieht … Es wäre jedoch falsch, zu meinen, dass mit dem Verweis auf die Herausforderung der Flüchtlingspolitik die wesentliche Antwort für den AfD-Erfolg bereits gegeben ist. Zwar gaben 54 Prozent der AfD-Wähler die Flüchtlingspolitik als wahlentscheidend an. 49 Prozent der AfD-Wähler wählten die AfD aus Gründen der sozialen Gerechtigkeit. Dies weist darauf hin, dass es neben dem unmittelbaren Nährboden der AfD einen mittelbaren gibt.« Für ihn liegen die Ursachen darin begründet, dass sich die so genannten etablierten Parteien immer weniger in zentralen politischen Fragen. unterscheiden, mit Ausnahme der LINKEN.

Neuer Schwung in stagnierende Kräfteverhältnisse bringen

Die Linkspartei in Berlin hat die von den etablierten Parteien vernachlässigten Themen – städtische Armut, Wohnungsnot und das Verwaltungschaos infolge von massiver Sparpolitik beim Personal und Investitionen – ins Zentrum gerückt und will dies auch in eine rot-rot-grüne Regierung einbringen. »Wir können regieren, das haben wir in zehn Jahren Rot-Rot gezeigt«, sagt Fraktionschef Udo Wolf. »Wir müssen aber nicht.« Und Landeschef Klaus Lederer bekräftigt: »Wir haben deutlich gemacht, dass wir offen für ein rot-rot-grünes Bündnis sind.« Allerdings gebe es zwei Grundsatzforderungen, die in einer möglichen Koalition nicht verhandelbar seien: Die Armut in der Stadt müsse stärker in den Fokus rücken, und es müsse ein anderer politischer Umgang einziehen – und zwar sowohl unter den Parteien, als auch zwischen Politik und BürgerInnen.

Eine rot-rot-grüne Koalition in Berlin könnte neuen Schwung in die stagnierenden Kräfteverhältnisse bringen und hätte auch ein großes Gewicht bei den bevorstehenden Auseinandersetzungen bis hin zu den Bundestagswahlen im September 2017. Dazu bedarf es aber die Bereitschaft der Neuausrichtung der drei Beteiligten. Bisher herrscht gegenüber dem rasanten Aufstieg der AfD bei allen Parteien konzeptionelle Ratlosigkeit.

Zu Recht pocht daher Bodo Ramelow darauf, dass wir überprüfen sollten, ob unsere Antworten auf die wachsende soziale Ungleichheit präzise und überzeugend genug sind. »Wir sind mit einem neoliberalen Umbauprozess unserer Gesellschaften in Europa konfrontiert, der einerseits dafür sorgt, dass der Reichtum immer mehr ansteigt und sich in den Händen weniger konzentriert, während andererseits eine breitere Schicht zunehmend verarmt. Das ist ein schleichender Prozess. Die vielen Flüchtlinge, die im letzten Jahr zu uns kamen, mögen der berühmte Tropfen gewesen sein, der das Fass zum Überlaufen bringt. Aber sie sind nicht das Problem.

Zuversicht sinkt, Gefahr wächst

Das Wohlstandsmodell der Bundesrepublik Deutschland hat keinen Glanz mehr. Die Menschen sagen nicht mehr, mir geht es zwar im Moment nicht so gut, aber perspektivisch wird es mir besser gehen. Ohne diese im zweiten Teil des Satzes zum Ausdruck kommende Zuversicht, wird es für die Gesellschaft gefährlich. Und das bildet die AfD ab.« Dennoch »wäre es falsch, wenn wir nun weiter pausenlos über die AfD und ihre wirre Hetze reden… Für DIE LINKE kommt es darauf an, in den anstehenden Neuordnungsprozess möglichst viele linke Impulse einzubringen.«

Bundesgeschäftsführer Matthias Höhn skizziert eine mögliche Neuausrichtung so: »Die Verteilungsfrage gehört ins Zentrum der politischen Auseinandersetzung. Denn jede soziale Reformpolitik hat zur Voraussetzung, dass Vermögende, Kapitaleigentümer und Superreiche viel stärker steuerlich herangezogen werden. Dadurch entstehen die Spielräume für soziale Politik, Armutsbekämpfung und öffentliche Investitionen. Wer nicht den Reichtum antasten will zur Finanzierung des Gemeinwesens, der meint es nicht ernst mit sozialer Gerechtigkeit und kann die drängendsten gesellschaftlichen Probleme nicht lösen…

In einem ersten Schritt müssen die in der Merkel-Ära angestauten Defizite abgebaut werden – vom Stau bei öffentlichen Investitionen in der Bildung, bei Gesundheit und Pflege, im öffentlichen Dienst bis hin zu technologischen Innovationen in der Forschung, bei der Digitalisierung, bei der Energiewende… Nichts geht ohne Europa: Alle Lösungen müssen letztlich auch europäische sein. ›Europäisch‹ meint: die Europäische Union plus ihre Nachbarschaft plus ihre globale Verantwortung.«

Es beginnt mit Zukunftsinvestitionen

Um obige Argumentation aufzugreifen: Als erstes müssen die Länder und vor allem die Kommunen unverzüglich vom Bund in einem Umfang finanziell unterstützt werden, der sie in die Lage versetzt, dringende Zukunftsinvestitionen in Angriff zu nehmen. Für alle heute und zukünftig in Deutschland lebenden Menschen ist es wichtig, dass unser Bildungssystem – von der Kita angefangen – modernisiert und ausgebaut wird.

Wir brauchen mehr und besser bezahlte Fachkräfte in den öffentlichen Dienstleistungen und mehr bezahlbaren Wohnraum für alle in den Ballungsräumen. Die notwendigen Investitionen in die Zukunftsfähigkeit unseres Gemeinwesens dürfen nicht dem Mantra der »Sparpolitik« geopfert werden. Angesichts der niedrigen Zinsen ist die Finanzierung öffentlicher Investitionen für den Staat so günstig wie noch nie.

Da die Probleme jetzt anstehen, müssen die Gelder kurzfristig bereitgestellt werden. Da keine Überschüsse im notwendigen Maße zur Verfügung stehen, Ausgabenkürzungen an anderer Stelle nirgendwo in Europa politisch zu vermitteln sind und Steuereinnahmen bestenfalls mittelfristig zur Verfügung stehen, müssen die Ausgaben über Neuverschuldung bestritten werden.

Dies ist ohnehin angemessen, da die zu tätigenden Ausgaben überwiegend den Charakter von Investitionen tragen, die typischerweise und generationengerecht durch Kredite vorfinanziert werden. Zudem ist eine starke Anschubfinanzierung oft wirksamer, als den gleichen Betrag stückweise auszahlen. Auch dies spricht für eine Vorfinanzierung durch Kreditaufnahme, die auch durch die derzeit äußerst niedrigen Zinsen unproblematisch ist.

Die langfristige Gegenfinanzierung hat natürlich durch Steuereinnahmen zu erfolgen. Dabei wird durch die ausgelösten Wachstumsimpulse und selbstfinanzierenden Effekte ein beträchtlicher Teil der Ausgaben (oder bestenfalls das komplette Programm) gedeckt. Dennoch sollten Steuererhöhungen oder neue Steuern auf nationaler oder europäischer Ebene beschlossen werden, da sie aus vielerlei Gründen ohnehin geboten sind.

Für solche Vorschläge offensiv zu werben und in die Diskussion bei den Sozialdemokraten, den Grünen und den zivilgesellschaftlichen Gruppen und Gewerkschaften einzubringen, braucht es die ganze Kraft und den Willen der Linkspartei. Dieses zu entfalten ist dringend geboten – und es gibt dafür ein Zeitfenster, das recht knapp bemessen ist, wenn man beabsichtigt die ganze Partei mitnehmen zu wollen.

Joachim Bischoff ist Mitherausgeber, Björn Radke ist Mitglied der Redaktion von »Sozialismus«. Ihr Text erschien zuerst auf der Website der Zeitschrift.

Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.

Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.

Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.

Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.