Der Sog des guten Wortes
Auf der Jahreslesung der Gesellschaft für Neue Literatur waren Outsider-Autoren mit hohen Ansprüchen zu hören
Fast unbemerkt hat sich in den letzten Jahren eine unter- und hintergründige Literaturszene entwickelt, die es, obwohl von den Medien wenig beachtet, an Vielfalt und poetischer Potenz mit dem renommierten Buchmarkt aufnehmen kann. Ein riesiges Angebot verschiedenster Genres erreicht die Leser, zumeist in kleinen Verlagen gedruckt, jedoch mit einer Liebe gestaltet und ausgestattet, die große Verlagsanstalten beschämen müsste. Die Auflagen sind nicht hoch. Aber in Zeiten, in denen es längst nicht mehr oder nur in Ausnahmen zur Ehre gereicht, auf Bestsellerlisten erwähnt zu werden, besagt das nichts. Natürlich gibt es darunter Misslungenes (wie bei Rowohlt und Fischer auch), aber in der Summe erfüllt diese Outsider-Literatur hohe literarische Ansprüche.
Triebstätten dieses außerhalb des Mainstream gedeihenden Wildwuchses an Erzählungen, Krimis, Romanen, Lyrikbänden sind Tausende über Stadt und Land verstreute literarische Zirkel. Ein solcher Aktivposten ist die Lesereihe »Literatur in Weißensee« in der Brotfabrik, die Alexander Graeff seit 2013 leitet. Die Idee: Literatur soll im Stadtbezirk eine Adresse haben, soll unmittelbar die Bewohner und andere Interessierte erreichen. Ihr zur Seite steht die bereits 2004 gegründete Gesellschaft für Neue Literatur, ein privater Autorenkreis, der mit Lesungen, Workshops und einer langen Publikationsliste auf eine beachtliche Tradition verweisen kann. Ein Charakteristikum dieses eingetragenen Vereins ist sein Arbeitscharakter. Hier kommt es nicht auf Effekte an, wie bei den Poetry-Slum-Veranstaltungen, sondern auf die Gestaltung der Texte nach allen Regeln der Kunst.
In der vergangenen Woche hatte die GNL ihre überaus gut besuchte Jahreslesung in der Brotfabrik. Fünf Autorinnen haben ihre neuen Romane vorgestellt. So unterschiedlich die Storys, eines einte sie doch: Die Suche nach Liebe, Heimat, Sicherheit, Familie. Wie in den siebziger Jahren Kriegsflüchtlinge aus dem Libanon nach Westberlin eingeschmuggelt wurden, in einem kriminellen Milieu ihre Identität aufgeben mussten und sich trotzdem zu integrieren versuchten, erzählt Gitta Mikati in »Berlin - Beirut. Eine Lüge zu viel«. Ein unbekanntes Kapitel der deutsch-deutschen Geschichte. Mit einem Tagesvisum für die DDR reisten die Flüchtlinge in Berlin-Schönefeld ein und wurden sofort über den Bahnhof Friedrichstraße abgeschoben. Was für die meisten Geflohenen ein Glücksfall war, denn ihr Ziel war der Westen - das Flugticket- und Visageschäft hat der DDR erhebliche Summen eingebracht. Und nicht weniger den zwielichtigen Empfängern der Menschenware hinter der Mauer. In einen der Getriebenen, Mahmoud, verliebt sich seine Fluchthelferin Maria. Beide geraten in riskante, unüberschaubare Deals. Gitta Mikati war viele Jahre als Polizeibeamtin mit der Ausländerproblematik vertraut. Die Machenschaften der Unterwelt, das Verhalten der Personen sind so beeindruckend geschildert, dass die Lesung wie ein Sog wirkte.
Mit der Geschichte Kilians, eines sensiblen Jungen, der als »Bankert« in einer katholischen Kleinstadt in Westdeutschland aufwächst, hat Sigrun Casper in »Der Wortjongleur« die fiktive Biografie des 2013 verstorbenen schwulen Dichters Mario Wirz geschrieben. Casper, eine Schriftstellerin, der Harald Kretzschmar in seinem Kleinmachnow-Buch »Treff der Originale« ein hübsches Porträt gewidmet hat, war über viel Jahre mit Wirz befreundet. Kilian wird in der Schule und im Ort gemobbt. Als er seiner homosexuellen Gefühle gewahr wird, verstärken sich die Zweifel an seiner Umwelt. Allein die innige Mutter-Sohn-Beziehung und seine Fähigkeit, mit Sprache umzugehen, stärken sein Selbstbewusstsein.
In Rita Königs Debütroman »Rot ist schön« leidet die fünfzehnjährige Silke am Bruch ihrer Familie. Die Mutter zieht mit dem Bruder irgendwohin, wie sich später herausstellt, nach Holland. Sie bleibt beim Vater im Osten, dem sie mehr zugetan ist. Den Verlust kann sie nicht verwinden. Sie verletzte und wird verletzt, findet keinen Halt. Bis sie sich entschließt, zum Wohnort der Mutter zu fahren, ohne zu wissen, ob sie aussteigen wird. Auf der langen Reise lässt Rita König das konfliktreiche Leben der Silke vorüberziehen.
Kerstin Finkelsteins Roman schildert einen subtilen, fein gesponnenen Zweikampf mit Thrillerelementen. In der Praxis des Psychotherapeuten Goldschmied erscheint eine neue Patientin. Sie ist jung, schön - und hochintelligent. Was als Therapie beginnt, entwickelt sich schnell zu einem gefährlichen Spiel um Macht, Scham und sexuelle Anziehung. Was ist Realität, was Phantasie? Wer ist Opfer, wer Täter?
Verstehen wir die Zeit aus Zeitungen? Ja. Aber nicht das Leben.
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