Was wir und andere von uns wissen ...

Elizabeth Harrower: »In gewissen Kreisen« ist ein schimmernder, lebensweiser Roman

  • Irmtraud Gutschke
  • Lesedauer: 6 Min.

Dieses Buch ist wie eine Kugel, die in verschiedenen Farben schillert, je nachdem, von welcher Seite man sie sieht. Man kann sich darin spiegeln und das Gefühl haben, alles ganz zu verstehen. Und dann wieder wird es einem so vorkommen, als ob diese Kugel etwas Undurchdringliches birgt, ein Geheimnis, das nur die Autorin kennt.

Elizabeth Harrower, geboren 1928 in Sydney, ist in den 1950er und 1960er Jahren durch mehrere Romane bekannt geworden. Mit einigen Kurzgeschichten hat sie ihre Schriftstellerkarriere abrupt beendet. Ihr Manuskript »In Certain Circles« zog sie kurz vor der Veröffentlichung zurück. Seit damals lag es in der »National Library« und wurde erst wiederentdeckt, als ein Verleger sich für Harrowers nicht mehr erhältliche Romane interessierte.

Kürzlich darauf angesprochen, wusste sich die ansonsten agile alte Dame nicht mehr an den Roman zu erinnern und konnte auch nicht erklären, ob wirklich der Tod ihrer Mutter der Grund war, dass das Schreiben sie fortan nicht mehr interessierte. Oder stellte sie vielleicht fest, dass sie allzu viel Persönliches preisgegeben hatte? »Es fiel ihr auf, dass es auf Erden vielleicht nichts Mutigeres gab, als sich zu erlauben, verstanden zu werden«, heißt es gegen Ende des Romans. Aber die Autorin, seit jeher allein lebend, ohne Kinder, hat doch mit ihren Gestalten nichts gemein. Oder?

»Das Buch hat was«, sagte eine Kollegin vom Aufbau Verlag zu mir, der man trauen kann, weil sie immer zu sich und ihrem persönlichen Leseeindruck steht. Aber was? Es ist die Geschichte zweier Geschwisterpaare - Zoe und Russell aus gutem Hause, dazu Stephen und Anna, Waisenkinder, die sich ihren Lebensunterhalt mühsam verdienen müssen und (wie anders kämen sie in jene wohlhabende Familie) deswegen mit einer Mischung aus Mitleid und Interesse betrachtet werden. Man möchte ihnen etwas Gutes tun, wundert sich über ihre Klugheit, als ob diese ihnen in ihrer Lage nicht zustünde.

Vor allem die 17-jährige Zoe - schön, vielfach talentiert, selbstbewusst und lebensfroh - kommt über ihr Erstaunen nicht hinweg, warum Stephen mit einer beschwerlichen, langweiligen Arbeit als Verkäufer seine Zeit vergeudet. »Reichen Menschen ohne Sorgen kann man nichts erklären«, schreibt Anna in ihr Tagebuch. »Die reden über ›Fälle‹ und Leute mit ›Problemen‹. Lesen eine Menge darüber, haben aber keine Ahnung.« Das ist so ein Moment, da man sich ertappt fühlen kann. In unserem Blick auf die Armen dieser Welt liegt doch auch, ob wir es wollen oder nicht, die Erfahrung und Erwartung reicher Menschen.

Die Neugier: Zoe fühlt sich wohl vor allem deshalb zu Stephen hingezogen, weil er ihr nicht wie andere entgegenkommt. Das muss man, wie überhaupt beim Lesen, selber erahnen, denn Zoe spricht und weiß es von sich nur vage. Was wir und was andere von uns wissen, für Elizabeth Harrower ist das etwas kaum zu Ergründendes.

Mir scheint, dass darin vor allem ein Reiz des Romans besteht.

Die Schriftstellerin Alissa Walser, die das Buch übersetzt hat, bezeichnet es im Nachwort als »das genaue Psychogramm einer am Rand der damaligen Weltereignisse zum Aufbruch bereiten Gesellschaft«. Die Handlung setzt ja kurz nach dem Zweiten Weltkrieg ein, und wir erleben, wie Zoe und Russell aus der wohlgeordneten Welt ihrer Eltern ausbrechen, wobei Russells politische Ideen und Aktionen vielleicht im Roman etwas zu kurz kommen, da ja Zoe erzählt, die davon nur wenig erfährt.

Es scheint in diesem Moment, als ob bisherige Klassenschranken nicht mehr gelten würden. Aber das ist eine Illusion, wie Elizabeth Harrower vor Augen führt. Denn selbst wenn Zoe und Russell das Trennende absichtsvoll beiseite wischen, Stephen und Anna werden es nie vergessen, auch dann nicht, als sie selbst zu Wohlstand gekommen sind. Ja, es ist bei ihnen fast so etwas, das man Dünkel nennen könnte. Ein Gefühl von Unterlegenheit hat sich verkehrt in Hochmut, weil sie Erfahrungen haben, die andere nie erlangen konnten. Deshalb ist Stephen für Zoe auch so anziehend gewesen. Sie spürte in ihm eine Überlegenheit, die Jungs aus ihren Kreisen für sie nicht hatten, und ordnet sich ihrerseits unter, nachdem sie ihn geheiratet hat.

In gewisser Weise allerdings nur. »Mit ihm verheiratet zu sein, dachte Zoe, ist wie ein immerwährender Intelligenztest.« Sie hat wohl den Ehrgeiz, der Liebe dieses verschlossenen Mannes ganz teilhaftig zu werden, also ein Ziel zu erreichen, und als das nicht gelingt …

Es ist bei Elizabeth Harrower so, dass sich Dinge nie feststellen lassen. Man ist sich nicht sicher, ob sie selber klar darum weiß oder ob es die Kraft ihrer wahrhaftigen literarischen Darstellung ist, durch die solche Gedanken beim Lesen evoziert werden. Bei der Lektüre kann einem eine Menge einfallen, wenn man mit sich selber aufmerksam ist. Das Erzählte mag ja fremd sein, aber die Gedanken, die von den Gestalten geäußert werden - man erlebt sie häufig im Gespräch -, kann man sich bisweilen wie Kleidungsstücke überstreifen, die auf erstaunliche Weise wie für einen selbst maßgefertigt sind.

Unterschiedliche Ziele und Lebenswerte: Zoes Eltern sind beide bekannte Wissenschaftler, und auch sie selbst ist lange überzeugt, dass sie aus ihrem Leben »etwas machen« müsse. Russels soziales Engagement wird von seiner Frau Lily, einer erfolgsgewohnten Universitätsdozentin und leidenschaftlichen Mutter, nicht verstanden, die es auch als persönlichen Affront betrachtet, als ihre beiden Mädchen - von ihr früh zum Ballettunterricht gebracht - für ihre weitere Karriere nach Europa gehen wollen. Stephen begreift gar nicht, weshalb Zoe mit ihm nicht zufrieden ist. Sie ihrerseits hatte keine Ahnung, dass er irgendwie ihr zuliebe, nicht in Vollzeit an die Uni zurückging und es ihr übel nahm, dass sie ihn zu wenig dazu drängte. »Es lähmt, wenn man sich täglich minderwertig vorkommt und sieht, dass das eigene Vermögen die Erwartungen nicht erfüllt.« Aber als das ausgesprochen wird, ist es für die beiden schon zu spät.

Etwas aussprechen: So tiefgründig im Roman auch sinniert wird, bleibt für alle seine Gestalten doch immer etwas Beschwiegenes. Nicht aus Feigheit, sondern aus Bedacht.

Erst sehr spät kommen Russell und Anna zueinander, von deren Geheimnis einer lebenslang sorgsam verborgenen Liebe wir hätten wissen können - man ahnte es ja bei aufmerksamem Lesen, aber begriff nicht, wie tief, wie existenziell es war. »Wie wenig durchblickten die Menschen die Lebenssituation eines anderen«, denkt Anna. »Und Zoe erkannte, dass die Menschen so ratlos im Umgang miteinander waren, da sie so selten wussten, worin der Quell des Lebens für andere bestand.«

Elizabeth Harrower: In gewissen Kreisen. Roman. Übersetzt von Alissa Walser. Aufbau Verlag. 279 S., geb., 22,95 €.

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