Um 1500 geht die Post ab

In der Arte-Dokumentationsreihe »Der Luther-Code« trifft Geschichte auf die Welt von heute

  • Thomas Klatt
  • Lesedauer: 3 Min.

In früheren Jahren behandelte Arte religiöse Themen eher nüchtern und unspektakulär. Egal, ob es um die Apokalypse oder um Jesus im Islam ging, stets wurden allein Theologen und andere Experten befragt, trocken und lehrreich, fast ohne filmische Spielszenen. Ganz anders nun in der sechsteiligen Dokumentationsreihe »Der Luther-Code«, die im Auftrag des deutsch-französischen Kultursenders Arte von der Eikon gGmbH produziert wurde. Hier wird der Zuschauer mit schnellen Schnitten, Moderationstexten und Interview-Einsprengseln geradezu überhäuft.

Fast alle Filmpassagen sind denn auch mit teils bedrohlicher Hintergrundatmosphäre und synthetischer Musik unterlegt, um die Dramatik noch zu steigern. Es gibt so gut wie keine Ruhe im Film. Deutlich soll ein jüngeres Publikum angesprochen werden, das mit vielen Fragen konfrontiert wird: »Die Welt ist unübersichtlich geworden, seit wir uns selbst zum Maß aller Dinge gemacht haben. Was kann heute Geborgenheit und Hoffnung geben? Sind wir am Ende ganz allein?«

Es sind Fragen, die vor Martin Luther so wohl noch nicht gestellt wurden. Denn vor 500 Jahren hat die reformatorische Bewegung nicht nur eine Erneuerung des Glaubens angestoßen, sondern völlig neue Weltsichten ermöglicht. Hinzu kam die kulturelle Befreiung in der Renaissance. These der Dokumentation: Wir leben mit dem »Luther-Code«, der einen so noch nie gekannten Grad der Weltbemächtigung ermöglicht - aber eben auch der Verängstigung.

Globalisierung, digitale Revolution, politische und militärische Krisen, der Kampf um persönliche Freiheit und der Schutz des Privaten verunsichern heute mehr denn je.

Das Zentrum der neuen Kulturepoche war nicht Wittenberg, sondern Florenz. Leonardo da Vinci und Michelangelo befreiten sich von Frömmigkeit und Aberglauben und feierten die Schönheit der Kunst. Der Mensch trat aus dem Dunkel der Geschichte und entdeckte seinen freien Geist. Martin Luther war also nur ein Teil der großen Weltveränderung. So erklärt es im Film etwa der Medienwissenschaftler Jochen Hörisch: »Um 1500 geht die Post ab. Natürlich haben sich die Leute, die den Buchdruck erfunden haben und Kolumbus und die Reconquista-Leute und Luther und so weiter nicht untereinander abgesprochen. Aber sie folgen einem ungeheuren Innovationsprogramm.«

»Der Luther-Code« ist keine linear erzählte Dokumentation. Historische Momentaufnahmen etwa der Reformatoren Jan Hus und Martin Luther wechseln sich mit den Aussagen heutiger Macher ab: Gen-Forscherinnen, Flüchtlingshelfer, Astrophysikerinnen, Künstler. Heraus kommen Gedankenschnipsel von Menschen wie dem Architekten Van Bo Le-Mentzel, der mit seinen »Hartz-IV-Möbeln« zum Selberbauen bekannt wurde, aber unumwunden zugibt, von Luther keine Ahnung zu haben. Konzept der Reihe ist, dass Reformationsgeschichte auf die Welt von 2016 trifft. Da klärt ein junger Mann über die vermeintliche Dummheit der Eltern-Generation auf: »Gerade jüngere Menschen sind ja ständig online. Diese Trennung zwischen offline-online gibt es gar nicht mehr. Diesen Paradigmenwechsel haben viele Ältere nicht verstanden.«

Kein Grund zur Angst aber, wie sie etwa noch die Menschen im Mittelalter vor Gott oder Teufel gehabt hatten. Mit der Reformation begann die Entdeckung der Freiheit des Gewissens. Der Mensch verstand sich als vor Gott verantwortliches Individuum. Wir sind heute zur Weltveränderung befreit. Neue Techniken bedeuten auch neue Chancen. Bei allen Zweifeln wird viel Zukunftsoptimismus verbreitet: Eine Pfarrerin aus Genf etwa versucht durch Internet-Botschaften die Herzen ihrer jüngeren Gemeinde zu erreichen.

Regisseur und Autor Wilfried Hauke gibt aber zu, dass es größenwahnsinnig anmutet, 500 Jahre Ideengeschichte in sechs 52-minütige Folgen packen zu wollen, zumal noch weitere historische Gestalten wie Johannes Kepler, Gottfried Wilhelm Leibniz, Friedrich Engels, Bertha von Suttner oder Albert Einstein behandelt werden. So kann man sich von den Gedanken- und Filmschnipseln bestenfalls zum Weiterdenken anregen lassen. Zum Beispiel darüber, was den Zuschauern bis Oktober 2017 noch so alles zum Thema Luther und Reformationsjubiläum vorgesetzt wird.

Arte, 29.Oktober ab 20.15 Uhr (Folgen 1-3) und 30. Oktober ab 22.15 Uhr (Folgen 4-6)

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.