Wie Zehnjährige im Delirium

Nach mehr als einem Jahrhundert gewinnt das Baseballteam der Chicago Cubs endlich wieder den Meistertitel

»Die Cubs ...«, schreit Fernsehreporter Joe Buck ins Mikrofon, schon kurz bevor Anthony Rizzo den letzten Ball in seinem Handschuh verschwinden lässt. Dann bricht seine Stimme: »... gewinnen die World Series. Es ist endlich vorbei. Sie haben es endlich geschafft.« 108 Jahre lang hatten die Chicago Cubs immer wieder vergeblich versucht, ihren dritten Meistertitel der Major League Baseball (MLB) zu gewinnen. Es war die längste Durststrecke eines Sportteams in den USA, wahrscheinlich sogar weltweit. Doch seit diesem Donnerstagmorgen, kurz nach Mitternacht, seit diesem gefangenen Ball im letzten Saisonspiel bei den Cleveland Indians ist sie vorbei. Und Bucks Radiokollege Pat Hughes, der seit 20 Jahren fast alle Spiele Chicagos kommentierte, weiß im selben Moment: »Jeder Cubs-Fan wird sich sein Leben lang erinnern, wo er in diesem Moment war.«

Bob Miller ist einer dieser Fans, und er ist an diesem Abend in der Country Club Bar in Chicagos North Clark Street. Er wuchs hier ganz in der Nähe auf. Nur einen Block entfernt steht das Wrigley Field - mit seinen efeubehangenen Backsteinmauern das wohl letzte Stadion seiner Art im US-Profisportgeschäft. Kein Betonklotz in irgendeinem Industriegebiet an der Stadtgrenze, sondern mitten in Wrigleyville, einem Wohnviertel, das zwar offiziell nicht so heißt, aber das Stadion der Cubs ist nun mal sein Mittelpunkt. Bis vor zwei Jahren wurden manche Tribünen der 1914 eröffneten Arena noch von Holzbalken getragen, doch sie mussten altersschwach dann doch irgendwann Stahlträgern weichen.

Bob Miller ist also wieder hier, für diesen Moment, in dem nun Tränen fließen. »Ich kann es gar nicht fassen«, sagt er. Der drahtige Mann mit schulterlangen dunkelblonden Haaren war mit seinen Eltern nach Kalifornien gezogen, als er sechs war. Heute hat er selbst vier Söhne und eine Tochter, die übers ganze Land verstreut sind: Phoenix, San Diego, Los Angeles, ein Cousin lebt noch in Chicago. Doch jetzt sind sie alle in dieser Bar und feiern mit Papa Bob, der schon als kleiner Junge ins Wrigley Field ging, immer in der Hoffnung, dass seine Cubs es endlich wieder schaffen würden. Er musste 59 Jahre alt werden, bis es so weit war.

Ins Stadion kam er bei den drei Heimspielen in Chicago nicht. »Die 2000 Dollar, die ich dafür mindestens hätte zahlen müssen, habe ich nicht. Aber das ist egal, denn meine ganze Familie ist heute hier«, sagt er und zählt insgesamt 16 feiernde Angehörige um ihn herum. Alle in den typisch blauen Shirts und mit dem roten »C« darauf. Auch die vier Schwiegertöchter sind dabei. »Die mussten alle den Cubs-Test bestehen, bevor ich sie in meine Familie gelassen habe«, sagt Miller mit einem irritierenden Lächeln, das zeigt, dass er den Satz wirklich ernst meint. Bei 20 Dollar Eintritt in die Bar musste er übrigens immer noch 320 Dollar zahlen, um das Spiel mit der Familie auf ein paar Bildschirmen zu sehen.

Leute wie Bob Miller gibt es überall in den USA. Die Cubs haben - wohl weil sie immer wieder verloren haben - die treueste und größte Anhängerschaft. Egal wo die Mannschaft spielt, Fans hat sie überall. Die »loveable losers«, wurden sie genannt. Immer wenn es darauf ankam, patzten diese liebenswerten Verlierer oder hatten wahrhaft unglaubliches Pech am Lederhandschuh. Dann wurde meist wieder der sogenannte Cubs-Fluch zitiert. Manchmal wurden aber auch Fans verantwortlich gemacht und verachtet, die den Spielern an der Ausgrenze einen wichtigen Ball weggeschnappt hatten.

Und fast geht es auch diesmal wieder schief in diesem alles entscheidenden siebten Spiel der Finalserie, die in der MLB »World Series« heißt. Einen 5:1-Vorsprung hat ausgerechnet Aroldis Chapman, der härteste Werfer der gesamten Liga, noch aus der Hand gegeben. Nach mehr als drei Stunden Spielzeit geht es mit 6:6 in die Verlängerung.

Eine 17-minütige Regenpause erhöht die Spannung nur noch mehr, dann bringen Ben Zobrist und Miguel Montero Chicago wieder mit zwei Punkten in Führung. Doch natürlich ist das Spiel noch immer nicht vorbei. Cleveland darf noch einmal ran, schafft seinen siebten Punkt und hat die Chance zum Ausgleich. Der Ball rollt genau auf Kris Bryant zu. Er muss ihn nur noch zu Kollege Rizzo werfen. Doch Bryant rutscht weg und fällt. Ist der Fluch etwa immer noch nicht gebrochen? Doch. Rizzo fängt den Ball. Erlösung, Schweiß und pure Freude vermischen sich in einer hüpfenden blauen Traube von Spielern, die aussehen »wie ein Haufen von Zehnjährigen im Delirium«, wie es Pat Hughes ganz treffend beschreibt.

»Ich wünschte, mein Vater hätte das noch sehen können«, sagt Bob Miller stellvertretend für viele Fans, die den Cubs-Virus einst von ihren Vätern und Großvätern eingepflanzt bekommen haben. »Schon gehört, die Cubs haben es wieder nicht geschafft«, war eine Konstante bei Wiedersehensfeiern. Doch nun spricht Rizzo mit dem wohl wertvollsten Baseball der Geschichte in den Hosentasche die erlösenden Worte in die Kamera: »Chicago, wir haben es endlich vollbracht!«

Wenige Minuten später wird die Trophäe an Eigentümer Tom Ricketts überreicht. Dessen Familie spendete vor sechs Wochen eine Million Dollar an Donalds Trumps Wahlkampfteam. Es scheint, als müssten in jedem Aschenputtelmärchen ein paar Schlechte ins Kröpfchen.

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