Schmachtfetzen für Herz und Gemüt
Im Amsterdamer Jordaanviertel singen Einheimische begeistert sentimentale »Levenslieder«. Von Manfred Lädtke
Levenslieder (Lebenslieder) nennen Amsterdamer zu Akkordeon und Gitarre gesungene Volksweisen, Balladen und Rührstücke, die zum Träumen und Weinen, zum Lachen und meistens zum Schunkeln sind. Dass die hemmungslos sentimentalen Levenslieder mit viel Witz und einer Portion Kitsch als Exportschlager nicht taugen und außerhalb der eigenen Grenzen kaum bekannt sind, schert die Menschen im Amsterdamer Jordaanviertel, wo sie vor allem gesungen werden, wenig. Kein Wunder. Für die Musik bedarf es erstens der Intimität einer Amsterdamer Kneipe und zweitens Sangesfreude sowie eines unbefangenen, selbstbewussten Umgangs mit dem trivialen Liedgut.
Freitagabend ab 22 Uhr ist das Café »De Twee Zwaantjes« (»Die zwei Schwäne«) an der Prinsengracht 114 rappelvoll. Zwei leidenschaftlich aufspielende Akkordeonisten begleiten die vom Publikum mit Inbrunst vorgetragenen Lieder von Liebe und Verlust, Sorgen und Hoffnungen und immer wieder von »ihrem« Jordaan und Amsterdam. Männer und Frauen zwischen 18 und 70 Jahren halten ihren Partner dabei fest im Arm. Mit dem Bierglas in der Hand singen, nein, klagen sie wehmütig: »Wenn ich Dir morgen nicht mehr schreibe…« Dann wird es leise in dem schummrigen Lokal. Hausherrin Trees Ruzette greift zum Mikrofon, streift ihre braunen Locken zurück, nickt den Akkordeonspielern stumm zu und singt mit schmachtendem Vibrato: »Es ist so still in Amsterdam«. Die Gäste singen und summen ergriffen mit, einem älteren Herrn kullern Tränen über die Wangen. Zwei Damen fordern lautstark die Hymne »Geef mij maar Amsterdam« (»Ich will nur Amsterdam«) des 1989 verstorbenen Grachtentroubadours Johnny Jordaan. Als die Akkordeons die vertraute Melodie vorgeben, stimmt die Kneipenschar begeistert ein.
Trees hat wieder das Mikrofon mit dem Zapfhahn getauscht. Während das Bier in Strömen fließt, erzählt die Wirtin die Geschichte von ihrem Quartier und seiner unaufgeregten Musik. Ihre Kneipe erlebe das Kommen und Gehen seit fast 90 Jahren, berichtet Trees stolz. In den 1930er Jahren hätten Italiener, Franzosen und Portugiesen mit ihrer Volksmusik den Ton angegeben. Auch Opern und Operetten gehörten zum nächtlichen Repertoire. Später, in den 1960er Jahren, seien dann die typischen Jordaanschnulzen entstanden. Als verklärende Erinnerung an eine Zeit, in der sich einfache Leute zu Geselligkeit und Musik trafen, um der alltäglichen Müh und Plag für ein paar Stunden zu entfliehen, genießen diese Lieder heute Kultstatus. Die bekanntesten Interpreten jener herzergreifenden Schmachtfetzen waren Johnny Jordaan und Tante Leen. An sie und drei andere Originale erinnert an der Prinsen-/Ecke Elandsgracht auf dem Johnny Jordaan Plein ein Denkmal.
Vom Kirchturm schlägt es Mitternacht. Donnerstags geht es zu dieser Stunde vier Straßen vom »Zwaantjes« entfernt in der Westerstraat 109 hoch her. Das Café Nol ist seit über 40 Jahren eine in Rotlicht getauchte plüschige Institution für Herz-Schmerz-Abende. Hauptsächlich jüngere textsichere Damen und Herren sind ganz aus dem Häuschen, wenn der cool aussehende Sänger auf der winzigen Bühne Johnny Jordaan mit dessen typischem Amsterdamer Akzent imitiert. Ach, Johnny! Ein Objekt der weiblichen Begierde ist der singende Kellner, der im Alter von nur neun Jahren ein Augenlicht verlor, nie gewesen. Auch nach seinem Tode hat der Mann mit dem eckigen Brillengestell in Fragen Stil und Schick das Nachsehen gegenüber seinen smarten Nachahmern. Dafür punktete er mit Charme, Humor und Originalität sowie seinem glaubhaft gesungenen Bekenntnis »Lieber mittellos in Amsterdam, als Millionär in Paris«. Geld wie Heu war auch nie das Ziel von Tante Leen (1912-1992), der 1956 bei einem Talentwettbewerb die Herzen zuflogen. Ihren größten Erfolg feierte die singende Putzfrau als sie »Oh Johnny« schmachtete und mit Mijnheer Jordaan zum Traumduo in Amsterdam avancierte.
Den Spuren der Evergreens nur nachts zu folgen, käme indessen einer Missachtung anderer liebenswerter Plätze, Winkel und Einrichtungen im Jordaan und seiner Nachbarschaft gleich: Tulpenmuseum, beschauliche Hofjes (Hinterhöfe), ausgefallene Läden, trendige Bars oder Restaurants wie das »Café t’small« mit seiner beschaulichen Uferterrasse an der Egelantiersgracht. Von hier sind es nur zehn Gehminuten bis zur Straßenbahnhaltestelle bei der Westerkerk. Eine Viertelstunde später hält die Linie 16 auf der Albert Cuypstraat südlich des Grachtengürtels. Wie der Jordaan war auch »De Pijp« ein Arbeiterbezirk und ist nun das lebhafte Zuhause einer multikulturellen Gemeinschaft von Händlern, Künstlern, Freaks und Immigranten.
Seinen Namen »Röhre« verpasste der Volksmund dem bunten Stadtteil, weil Ende des 19. Jahrhunderts ein von 20 Mühlen gesäumter langer Graben den Bezirk dominierte. Der zugeschüttete, bebaute Kanal wurde zur Albert Cuypstraat und längsten und grellsten Marktmeile in Holland. Zwischen Schuhen, Möbeln, Erotikartikeln und Accessoires tauchen Hering mit Gurke, Gewürze, Tapas, Früchte und afrikanische Spezialitäten die Nase in ein Wechselbad der Düfte.
Einen Steinwurf entfernt vom herrlich nostalgischen Soul- und Jazzclub »Badcupy« steht das Denkmal von André Hazes. Der Lebemann und Interpret zuckersüßer Liebeslyrik schluchzte seine Lieder zunächst als akustischer Lockvogel für Händler auf dem Cuyp Markt, schaffte es aber später bis in die Top Ten. Als das Idol des Stadtteils 2004 im Alter von nur 53 Jahren starb, nahmen im Stadion des Fußballclubs Ajax Amsterdam 50 000 Menschen Abschied von ihrem »Volksjongen«
Je später der Abend, umso trauriger die Musik. Im Café Verhoeff lauschen Nachtschwärmer dem melancholischen Spiel von Handharmonika und Gitarre. Auf ein Zeichen der Musiker schlagen sie Textbücher auf, besingen lauschige Sommerabende an einer Gracht und beklagen laut᠆stark: »Sie sagte nicht einmal, ich liebe Dich!«
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