Biwak des Kaisers

Sylvain Tesson reiste auf Napoleons Spuren

  • Alfons Huckebrink
  • Lesedauer: 4 Min.

Ein letzter großer Fehler war am 26. Oktober 1812 Napoleons Entscheidung, den verspäteten Rückzug aus Russland nach der Schlacht bei Malajaroslawez auf derselben Route anzutreten wie den Hinweg: über verbrannte Erde. Auf wüstem Gelände vollzieht sich der Untergang der Grande Armée.

Wir sehen sie vor uns. Nicht einmal an Handschuhe haben sie gedacht. Sie haben anderes aus Moskau mitgenommen. Schmuck und Pelze, Tafelsilber und Möbel - zusammengeraffte Kostbarkeiten, die längst vom Schnee bedeckt irgendwo am Wegrand oder am Grund der Beresina liegen. Wie viele von den Plünderern selbst.

Sylvain Tesson (geb. 1972) hat in der Dezemberkälte auf Napoleons Spuren die Strecke von Moskau nach Paris auf einem russischen Motorrad mit Sidecar zurückgelegt: » … die Ural ist langsam und Russland unendlich groß.« Der Franzose ist Fan dieses in die Jahre gekommenen Fortbewegungsmittels. Zudem zeigt er sich als Russenversteher - angesichts eines medial gepflegten undifferenzierten Putin-Bashings ein bemerkenswerter Zug. Beides mag im Zusammenhang stehen mit Tessons heiklem, aber durchaus nachvollziehbarem Überdruss am westeuropäischen way of life, eines »Kapitalismus mit unmenschlichem Antlitz«, der vor einigen Jahren bereits sein Buch »In den Wäldern Sibiriens« prägte.

Entscheidender Bewegrund für den neuerlichen Aufbruch ist indessen die Faszination durch das Phänomen Napoleon: die Persönlichkeit des Kaisers, sein Aufstieg und Charisma, das 450 000 Menschen - die größte jemals zusammengestellte Armee vor Beginn des motorisierten Zeitalters - zur Einnahme Moskaus und schließlich in den Untergang führt. »Wie wird man zu dem, was man ist?« Das Buch trägt zu Recht den Titel »Napoleon und ich«, weil es einem Mythos nachspürt, der bis heute die semantische Tiefenschärfe von Begriffen wie Ruhm, Helden, Opferbereitschaft verwischt. Eine Faszination, die Tessons russische Begleiter nur bedingt teilen, was ihn immer wieder in Erklärungsnot bringt: »Er hatte die Verwaltung umgestaltet, den Staat reformiert, die alten Modelle der Zivilisation über den Haufen geworfen …«

Wir sehen sie vor uns. Drei Franzosen, zwei Russen, pelzvermummt, mit Polar-Handschuhen, Schneebrillen. Tesson auf dem Haupt eine Replik des kaiserlichen Zweispitzes. Schlingernd über verwehte Straßen, vereiste Pisten, Spurrillen, schleichend und hustend hinter LKW-Kolonnen. Die Spuren des Dramas sind unübersehbar. Überall finden sich noch Schnallen, Trinkbecher und Trensen im Boden. Nur noch 100 000 Soldaten traten den Rückzug an. Die Armee würde von selbst verschwinden. Die Kälte sollte sie niederstrecken, so das Kalkül des russischen Oberbefehlshabers Kutusow.

Und immer wieder Erinnerungen, wachgerufen durch historische Ortsnamen: Borodino, Wjasma, Borissow, Orscha … und endlich die Beresina, der Übergang bei Studjanka. Hier kulminiert das Drama, hier vollzieht sich das Sterben der Pioniere unter General Eblé beim Bau der Pontonbrücken in eiskaltem Wasser.

Tesson schöpft aus zwei gegensätzlichen Quellen. Er zitiert aus den Aufzeichnungen des Sergeanten Bourgogne, der die härtesten Tage überlebt, weil er »gefrorenes Blut« lutscht, sowie aus den berühmten Gesprächsnotizen des Generals Caulaincourt, der den Kaiser in einer Kutsche begleitet, als der am 5. Dezember bei Smorgon die Überreste der Armee verlässt und nach Paris eilt, seine wankende Herrschaft zu festigen. Tesson schrieb ein widerborstiges Buch, das nicht einfach konsumiert werden will. Es zwingt zum Innehalten, zum Nachdenken über das Fortwirken eines grandiosen Scheiterns, einer veritablen Katastrophe.

Die Miasmen der Vergangenheit materialisieren sich in der Ost-West-Gegenwart am sinnfälligsten während ihres Aufenthalts im trostlos skurrilen Wirtshaus in Borissow, das sich »Zum Biwak des Kaisers« nennt. Es ist überreich ausgestattet mit Devotionalien. Karten der Beresina-Schlacht schmücken die Wände - und eine »Olga mit blassblauen Fingernägeln« serviert den LKW-Fahrern literweise Kohlsuppe und Bier.

Mit großem Getöse und einer Sondererlaubnis fahren sie zuletzt in den Hof des Invalidendoms in Paris ein und parken ihre Urals unterm Standbild, wenige Meter entfernt vom Grab. Wer war Napoleon? Diese Frage kann auch Tesson in seinem packenden Reisebericht nicht beantworten. Dass er sie auf überraschende Weise auslotet, verschafft dem Leser ein beträchtliches Vergnügen.

Sylvain Tesson: Napoleon und ich. Eine abenteuerliche Reise von Moskau nach Paris. Aus dem Französischen von Holger Fock und Sabine Müller. Knaus Verlag. 224 S., geb., 19,99 €.

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