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Das Recht auf Kälte - und ein selbstbestimmtes Leben

Gerd Braune berichtet über den eisigen Krieg um Einflusssphären in der Arktis und dessen verheerende Folgen für die Inuit

  • Gert Lange
  • Lesedauer: 4 Min.

Warum haben sich im Norden Kanadas junge Inuit massenhaft umgebracht? Begann mit dem Absenken einer russischen, aus Titan gefertigten Staatsflagge am Nordpol im Jahre 2007 ein neuer, nun wirklich eiskalter Krieg? Warum verzichtet Shell auf die Ölsuche in der Tschuktschen-See? Was hat Jelly Ell, ein Bildhauer in der Hauptstadt des indigenen Territoriums Nunavat, im Sinn, wenn er vom »Recht auf Steine« spricht? Oder Sheila Watt-Cloutier, die Präsidentin des Inuit Circumpolar Council, vom »Recht auf Kälte«; sie wurde 2015 mit dem Alternativen Nobelpreis ausgezeichnet.


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* Gerd Braune: Die Arktis. Porträt einer Weltregion. Ch. Links Verlag. 248 S., geb., 18 €.


Über das Ausdünnen der arktischen Eiskappe, die Folgen der Klimaerwärmung auf die Biodiversität und andere Erkundungen der Polarforscher haben wir in den letzten Jahren viel erfahren. Aber was wissen wir über das Leben der Bewohner jenseits des Polarkreises, ihre Konflikte, die politischen Diskrepanzen der Anrainerstaaten im Kampf um Einflusssphären, Meeresboden, Bodenschätze - um eine Weltregion, die zunehmend auf die globalen Beziehungen der Menschen einwirkt?

Gerd Braunes Buch über die Arktis hebt sich von den nicht wenigen, ebenfalls verdienstvollen Publikationen über Polargebiete ab. Versuchen die meisten Autoren, uns die fernen, eisigen Gefilde mittels brillanter Fotoaufnahmen, Grafiken, wissenschaftlicher Erläuterungen nahezubringen, widmet er sich ganz und gar den aktuellen Lebensbedingungen der Völker dieser überhaupt nicht »menschenleeren« Regionen. Denn »die Arktis« ist nicht nur der Arktische Ozean, sondern riesige Flächen - Nordskandinaviens, Sibiriens, Kanadas, Grönland insgesamt - sind Festland. Dabei ist der Alltag der ansässigen Bevölkerung gar nicht so alltäglich, wie wir in Unkenntnis der Dinge vermuten. Die Aufheizung des Klimas, erzwungene Umsiedlungen, Veränderungen der Lebensweise durch »modern government«, das Ringen um jahrhundertelang missachtete Selbstbestimmung, aber auch die Rangeleien der Regierungen um Explorationsrechte, Seefahrtslinien usw. machen den Inuit das Leben schwer.

Der in Toronto geborene Autor, nach einer journalistischen Zwischenphase in Wiesbaden und Frankfurt seit vielen Jahren in Ottawa lebend, überzeugt durch einen weiten Blickwinkel, umfangreiche Recherchen und Nähe zu den Menschen. Dass er von den kanadischen Inuit und der kanadischen Arktispolitik ausgeht, kann man ihm nicht verdenken; er hat ausgiebig die Siedlungsgebiete bereist, von der Baffin-Insel bis zum Yukon, wo immer noch nach Gold gebaggert wird. Aber auch Alaska, Grönland, die Aleuten, die Saamen, Nenzen, Jakuten bleiben im Blickfeld. Braune lässt nichts aus. Das schärft unser mehr auf den europäischen Norden und auf Sibirien gerichtetes Verständnis für die Probleme der Gesamtarktis.

Nach zwei Kapiteln, die uns drastisch vor Augen führen, welche verheerenden Auswirkungen das Schrumpfen der Eisdecke für die Lebensumstände der Inuit hat und für deren wichtigste Nahrungsquelle, die Tiere, die sie vom Eis aus jagen und deren Bestand zurückgeht, gibt es einen umfassenden Überblick über Verbreitung, Struktur und Organisation der Inuit-Völker. In Kanada hat der jahrzehntelange Kampf um Selbstbestimmung dazu geführt, dass die Regierung den angestammten Ethnien einen eigenen Verwaltungsbezirk zugesprochen hat, Nunavut genannt, was »Unser Land« bedeutet. In dieser zwei Millionen Quadratkilometer großen Region genießen die Bewohner eigene Landrechte, ohne dass es deswegen zu einer echten Autonomie gekommen wäre.

Ausführlich geht Braune auf die Bedeutung der Nordwest- und der Nordost-Passage für die Schifffahrt ein. Seine Erkundungen führen zu dem Schluss, dass diese Seewege den Schiffsverkehr über mittlere Breiten wenig entlasten, denn für absehbare Zeit wird das Eis noch eine freie Durchfahrt blockieren. Aber für den Gütertransport in Städte und Siedlungen an den Küsten werden sie immer wichtiger. Auch als Transportstränge bei der Erschließung von Bodenschätzen jenseits des Polarkreises, deren Potential ausgiebig diskutiert wird. Die damit verbundenen Erwartungen sind übertrieben, denn die hohen Kosten für die Gewinnung treiben ihre Preise hoch.

Von dort ist es nur ein Gedankensprung zum Festlandssockel und dem Zank der Arktisstaaten um Hoheitsrechte weit über die 200-Seemeilen-Grenze, die »Ausschließliche Wirtschaftszone« der Anrainer, hinaus. Am verstiegensten pokert Dänemark, das noch weite Teile des Lomonossow-Rückens in Richtung Sibirien beansprucht. Nach einer kurzen Entspannung unter Gorbatschows Friedensangebot eskaliert der Streit auch durch verstärkte militärische Präsenz, demonstrative Manöver und Staatsbesuche in der Hocharktis.

Braune erfasst Begebenheiten und Ereignisse bis zum Jahreswechsel 2015/16, und man muss es dem Christoph Links Verlag zugute halten, dass er das Buch so kurzfristig zum Druck befördert hat.

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